Kinder- und Jugendgewalt seit 2008 - ein Blick auf die Kriminalstatistik

von Prof. Dr. Henning Ernst Müller, veröffentlicht am 22.03.2023
Rechtsgebiete: StrafrechtJugendstrafrechtKriminologie16|6069 Aufrufe

Hinweis: Dieser Artikel wurde am 5.4.2023 überarbeitet und die neuen PKS-Zahlen 2022 eingearbeitet.

Anlässlich des offenbar von Kindern begangenen Tötungsdelikts in Freudenberg kam auch die Frage auf, ob es stimmt, dass Kinder und Jugendliche in den vergangenen Jahren „immer gewalttätiger“ werden.

Ich hatte in einem Beitrag auf dieser Plattform im Jahr 2010 kommentierend zur jährlichen Polizeilichen Kriminalstatistik geschrieben: "Die Jugendgewalt nimmt dramatisch ab!" Ich hatte auch beklagt, dass nur wenige journalistische Kommentare zur Kriminalstatistik diese sehr wichtige Information aufgreifen.

Nun wurde ich angesichts des erwähnten aktuellen Falls auch von Journalisten gefragt, ob Tötungsdelikte von Kindern häufig bzw. häufiger vorkommen als früher. Zur Beruhigung: Nein das ist nicht der Fall. (Vorsätzliche) Tötungsdelikte von Kindern sind nach wie vor sehr selten, ein Trend ist hier nicht festzustellen.

Aber es wird auch die Frage gestellt, wie es denn weitergegangen ist mit der Kriminalstatistik zu Jugendgewalt im Allgemeinen. Hierzu muss man wissen, dass unter Gewaltkriminalität in der PKS (Summenschlüssel 892000) eine Reihe von Delikten zusammengefasst werden, darin einbezogen sind natürlich auch Tötungsdelikte. In diesem Summenschlüssel ist die einfache Körperverletzung nicht erfasst, den Hauptanteil bildet die gefährliche Körperverletzung (um 90% der Gewaltdelikte). Das sind grob gesagt alle Verletzungsakte, bei denen eine Waffe oder ein Werkzeug zur Verletzung verwendet wurde, sowie solche, bei denen gemeinschaftlich mit anderen vorgegangen wird, was gerade bei Kindern und Jugendlichen häufig der Fall ist.

Ich habe hier eine auf Grundlage der PKS angefertigte Tabelle eingefügt.

Allgemein gilt, dass die Polizeiliche Statistik vor allem die Anzeigetätigkeit reflektiert. Insbesondere wenn ein Fall geringe Folgen hat, werden Jugendliche und Kinder häufig nicht angezeigt und der ganze Fall damit der Polizei nicht bekannt (Dunkelfeld). Da die Anzeigebereitschaft durchaus von Jahr zu Jahr schwanken kann, ist ein Blick auf einzelne Jahre wenig aussagekräftig. Im Gegensatz dazu können Entwicklungen über längere Zeitabschnitte auch auf entsprechende Tendenzen in der Realität hinweisen, insbesondere wenn es keine anderen erkennbaren Faktoren gibt, die die Anzeigehäufigkeit beeinflusst haben (könnten).

Tendenz der Anzahl wegen Gewaltstraftaten verdächtiger polizeilich registrierter  Jugendlicher

Betrachtet man die langfristige Tendenz der Entwicklung der (angezeigten) Gewaltdelikte Jugendlicher, dann lässt sich beobachten, dass diese (seit 2008) für ein Jahrzehnt „dramatisch“ rückläufig iwar. Die starke jährliche Abnahme hat sich seit meinem früheren Beitrag von 2010 noch fünf Jahre lang fortgesetzt, bis 2015 der bisher niedrigste Wert erreicht wurde, bei etwa 20.000 tatverdächtigen Jugendlichen. Zwei Jahre lang ist die Anzahl der jugendlichen Tatverdächtigen dann wieder angestiegen. Der Zusammenhang mit der Aufnahme von etlichen hunderttausend Geflüchteten in diesen Jahren scheint offensichtlich, aber dieser verweist nicht allein auf eine von verschiedenen Seiten vermutete höhere Gewaltbereitschaft geflüchteter Jugendlicher. Geflüchtete unterlagen (in Aufnahmelagern bzw. Flüchtlingsunterkünften) auch einer stärkeren Kontrolle, so dass auch gewalttätiges Verhalten schneller zur Anzeige gekommen ist. Nach einer Stabilisierung auf (im Vergleich zu den 1990er und 2000er Jahren) recht geringem Niveau, ist die polizeilich registrierte Jugendgewalt im vergangenen Jahr wieder stark gestiegen (um 28,8% mehr tatverdächtige Jugendliche) und hat jetzt wieder fast das Niveau von 2012 erreicht.

Tendenz der Anzahl wegen Gewaltstraftaten verdächtiger polizeilich registrierter Kinder

Bei Kindern liegt die allg. Anzeigebereitschaft noch einmal niedriger als bei Jugendlichen, denn es ist allgemein bekannt, dass Kinder nicht strafmündig sind. Deshalb sind diese Zahlen mit noch größerer Vorsicht zu genießen. Aber auch hier zeigen sich zunächst  ähnliche Tendenzen: Starker Rückgang seit 2008, dann kurzer Anstieg um das Jahr 2016. Die Entwicklung im Anschluss zeigt jedoch, insbesondere durch den sehr starken Anstieg im vergangenen Jahr, dass hier seit 2017 ein durchaus beachtlicher (nur durch die Pandemie unterbrochener) Trend zu wieder höheren Zahlen von angezeigten Kindern besteht, der jetzt wieder das Niveau von 2009 erreicht.

Tendenz der Kinder und Jugendlichen als Opfer von Gewaltstraftaten

Update 6.4.23:
Auf Anregung eines Lesers habe ich noch eine Tabelle angefertigt mit der die Entwicklung der Anzahl der (registrierten) Opfer von Gewaltkriminalität im Kindes- und Jugendalter seitz 2008 nachvollzogen werden kann

Einige knappe Anmerkungen dazu:

Bei den Kindern als Gewaltopfer ist zu berücksichtigehn, dass die Kindesmisshandlung NICHT zu den Gewaltdelikten im Schlüssel 692000 gehört. Die Opferzahlen dazu  lagen in den Pandemiejahren etwa 10 % höher als 2019 und sind 2022 um rd. 5% zurückgegangen.

Bei den Jugendlichen als Gewaltopfer lässt sich anhand der beiden Tabellen erkennen, dass hier Tatverdächtige und Opfer meist derselben Altersgruppe angehören.

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16 Kommentare

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Einen statistischen Wert hat auch die Aussage des Vize-Polizeichefs (Vize-Polizeipräsident dürfte gemeint sein) in der PK, er habe in 40 Jahren Dienstzeit eine solche Tat noch nicht erlebt. (So berichtet WELT-Reporter Daniel Koop https://www.welt.de/vermischtes/kriminalitaet/video244288729/Tote-Zwoelfjaehrige-Zwei-gleichaltrige-Maedchen-sollen-Luise-erstochen-haben.html)

Soweit ich weiß, trennt die PKS auch nach Geschlechtern. Aber ist es auch bei Kindern so? Ich kann mir jedenfalls gut vorstellen, dass Mädchen bei der Gewaltkriminalität von Kindern doch sehr selten vertreten sein dürften.

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Ja, bei Kindern wird auch nach Geschlecht registriert. Meiner (groben) Erinnerung nach waren es bei Mädchen jährlich Fälle im einstelligen Bereich, bei Jungen unter 50 Fälle. Das entspräche schon bei Kindern der auch bei Erwachsenen beobachteten Verteilung bei Gewaltdelinquenz im Hellfeld: Sehr deutliche Überrepräsentanz von männlichen Tätern.

Dem Rückgang der Gewaltkriminalität bei Kindern in absoluten Zahlen könnte man entgegenhalten, dass die Anzahl der Kinder unter 14 Jahren in Deutschland von 2009 bis 2013 gesunken ist. Seit 2014 erhöht sich ihre Anzahl deutlich. Es ist nicht ausgeschlossen, dass der Anstieg der Gewaltkriminalität in den 2017-2019 auch damit etwas zu tun haben kann. Jedenfalls sollte man auch diese Statistik nicht ganz außer Acht lassen.

https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1253/umfrage/anzahl-der-kinder-bis-14-jahre-in-deutschland-seit-dem-jahr-1950/

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Sicherlich ist das auch zu berücksichtigen, in der kriminologischen Statistik geschieht dies durch die Tatverdächtigenziffer, d.h. die Anzahl der Tatverdächtigen pro 100.000 Personen derselben Altersgruppe. Die Schwankungen sind allerdings (obwohl es bei Statista durch die Verzerrung der Grafik so aussieht) bei der Bevölkerungsentwicklung prozentual deutlich geringer, zumal man fairerweise die Kinder unter Schulalter wieder herausrechnen müsste, um einen angemessenen Vergleich zu produzieren.
 

Sieht man sich "die Bevölkerungszahlen, die zur Berechnung der Tatverdächtigenbelastungszahlen der deutschen Wohnbevölkerung bzw. zur Berechnung der Opfergefährdungszahlen auf Bundesebene benutzt wurden" (Datenquelle: Statistisches Bundesamt Wiesbaden (siehe auch www.destatis.de)), dann sieht man, dass die Schwankungen tatsächlich deutlich geringer sind als die Grafik bei Statista glauben lässt.

Bevölkerungszahlen für TVBZ ab 1987(V1.0):
https://www.bka.de/DE/AktuelleInformationen/StatistikenLagebilder/PolizeilicheKriminalstatistik/PKS2021/PKSTabellen/SonstigeTabellen/sonstigeTabellen_node.html

Hier werden Kinder unter 8 Jahren herausgerechnet. Die Anzahl der Kinder zwischen 8 bis unter 14 Jahren ist geringfügig aber stetig fallend. Jungen und Mädchen in diesem Alter gab es 4.296.669 (in 2008) und 3.915.610 (in 2020). Ihre Anzahl ist also in dreizehn Jahren um 381.059 gesunken. Das entspricht 8,9 Prozent. Auch die Anzahl von Jungen zwischen 8 bis unter 14 Jahren ist geringfügig aber stetig gefallen. Jungen in diesem Alter gab es 2.204.666 (in 2008) und 2.008.028 (in 2020). Das ergibt eine Differenz von 196.638 und entspricht auch 8,9 Prozent in dreizehn Jahren.

Ich denke, man müsste vereinfacht die Rückgangsstatistik um 8,9 Prozent nach unten korrigieren. Es handelt sich dann aber immer noch einen Rückgang der Gewaltkriminalität bei Kindern.

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Die Täterin fühlte sich wohl in ihrer Ehre gekränkt. Vielleicht sollten Kindergärten, Grundschulen, und Sekundarstufe-1-Lehranstalten, ihren Zöglingen mal den Unterschied zwischen innerer und äußerer Ehre erklären. Und das man "Ehre" nicht durch rechtswidrige Gewalt verteidigen kann. Vielleicht auch ein geeignetes Thema für einen Aufsatz oder eine Klassenarbeit?

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Auch Rudolf Egg (apl. Professor für Psychologie an der Universität Erlangen-Nürnberg. Von 1997 bis 2014 war er Direktor der Kriminologischen Zentralstelle des Bundes und der Länder (KrimZ) in Wiesbaden) spricht von einem Rückgang bei Gewalttaten:

"In die Kriminalstatistik der Polizei würden Tatverdächtige ab dem 8. Lebensjahr aufgeführt, erzählte Egg. Den Daten zufolge gebe es einen Rückgang bei Gewalttaten. (ml/dpa)"

https://www.tz.de/welt/anfang-leben-kriminalpsychologe-tatverdaechtigen-im-fall-luise-verdaechtige-maedchen-92148181.html

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Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS)

Die Zahl der tatverdächtigen Minderjährigen ist 2022 gestiegen – Bei Kindern um 35,5 % und bei Jugendlichen um 22,1 % im Vergleich zu 2021. Auch hier könnten u.a. die Folgen der Corona-Pandemie und die wirtschaftliche Lage die Risikofaktoren für Delinquenz beeinflusst haben.(4/5)

https://www.bka.de/DE/AktuelleInformationen/StatistikenLagebilder/PolizeilicheKriminalstatistik/pks_node.html

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Von Interesse hier ist der Summenschlüssel 892000 für Gewaltkriminalität. Darin werden für Kinder unter 14 Jahren 10.577 Fälle für das Jahr 2022 angegeben. Daraus ergibt sich ein Anstieg von 41,5 Prozent. Der Trend von 2017 wird damit dramatisch fortgesetzt und die Fallzahlen fallen auf das Niveau von 2009 wieder zurück. Die die Anzahl der Kinder zwischen 8 und unter 14 Jahren ist geringfügig, aber trotzdem weiter gefallen.

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Sehr geehrter Herr Kolos,

ich habe die neuen Zahlen ergänzt und gleich den ganzen Beitrag verändert. Leider kann man mit den Bevölkerungszahlen nicht so viel anfangen, sofern dies  die "deutsche" Wohnbevölkerung betrifft und evtl. stärkere Veränderungen der Bevölkerungszahlen der letzten 7 Jahre gar nicht enthalten sind.

Mit besten Grüßen

Henning Ernst Mülller
 

Wenn man den Fall Luise zum Anlass nimmt, einen Blick auf die Entwicklung von Gewaltkriminalität bei Kindern zu werfen, dann sollte auch die Entwicklung der Fallzahlen von Gewaltkriminalität von Interesse sein, denen Kinder zum Opfer gefallen sind, denke ich. Ich kann aber dazu leider noch keine Angaben machen.

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