Sexueller Missbrauch - Verjährungsfristen verlängern?
Gespeichert von Prof. Dr. Henning Ernst Müller am
Bei § 176 StGB (Sexueller Missbrauch von Kindern) beträgt die Verjährungsfrist nach § 78 Abs. 3 Nr. 3 StGB zehn Jahre, beginnt aber erst nach Vollendung des achtzehnten Lebensjahrs (§ 78 b StGB). Angesichts des Verdachts von Missbrauchs- und Misshandlungsfällen in kirchlichen Einrichtungen und Internatsschulen, von denen einige bereits vor Jahrzehnten geschehen sein sollen, ist von einigen Politikern die Forderung erhoben worden, man solle die Verjährungsfristen verlängern (Schavan, Merk, Seehofer - CDU/CSU, Stegner - SPD).
Gegen solche Änderungen hat sich nun Bundesjustizministerin Leutheusser-Schnarrenberger ausgesprochen (Quelle). Die Aufklärung eines Geschehens, das ja oftmals ohne Zeugen blieb, ist nach so langer Zeit schwierig, oft unmöglich. Für eine Verlängerung wird angeführt, dass sich Opfer oftmals erst Jahrzehnte später zur Strafanzeige durchringen, weil die psychischen Verletzungen durch die Straftat auch noch längere Zeit so schwer wiegen, dass sich das Opfer keiner offiziellen Stelle offenbaren möchte, und weil möglicherweise eine innere Loyalität zu der Institution auch noch lange Zeit später empfunden wird.
Welche Position ist hier die Richtige?
Die Forderung nach Verlängerung der Verjährung entspricht einem bekannten rechtspolitischen "Reflex" (der natürlich die jetzt schon verjährten Fälle sowieso nicht mehr erfassen kann), geht aber hier in die falsche Richtung. Durch die Verjährung wird nur eine individuelle Strafverfolgung gehindert, nicht aber die gesellschaftliche und vor allem institutionelle Aufklärung. Auf eine solche Aufklärung kommt es aber an, und dies unabhängig von der Strafjustiz. Eine individuelle Strafverfolgung könnte sogar das Gegenteil von dem bewirken, was jetzt erforderlich ist, nämlich eine Reduktion auf individuelle Schuld Einzelner bei gleichzeitiger "Entschuldigung" der institutionellen Rahmenbedingungen: Es muss aber debattiert werden, was Institutionen künftig tun können, um Verhältnisse zu vermeiden, die solche Geschehensabläufe erleichtern bzw. gar produzieren. Dies zeigt sich auch an Details der aktuellen Debatte. So wurde ja bekannt, dass bereits in den 60er/70er Jahren Missbrauchsvorwürfen bei den Regensburger Domspatzen nachgegangen wurde und hier sogar Verurteilungen erfolgten. Wenn nun dennoch heute Empörung laut wird, dann doch offenbar nicht, weil hier die Verjährung Strafverfolgung gehindert hat, sondern, weil man damals diese Fälle - trotz öffentlicher Verurteilung - nicht öffentlich diskutiert hat. Damals schützte man die Institution durch ein "Gebot des Schweigens" und sieht sich in der Folge erst heute insofern verspäteten Vorwürfen ausgesetzt. Der öffentliche Diskurs, so schmerzhaft und überzogen er häufig ist, wäre er damals schon geführt worden, hätte vielleicht schon bewirkt, dass man in den betr. Institutionen, v. a. der katholischen Kirche, besser auf mögliches Fehlverhalten der Erzieher und Pädagogen geachtet hätte.