Fall Kachelmann: Focus contra Spiegel
Gespeichert von Prof. Dr. Henning Ernst Müller am
Während eine Hauptverhandlung laut heutigen Presseberichten angeblich erst nach der Sommerpause stattfinden soll (Quelle), ergibt sich heute eine Art Stellvertreterprozess zwischen den Nachrichtenmagazinen Focus und Spiegel.
Der Spiegel hatte zunächst die Nase vorn und gab vor einiger Zeit aus dem von der Staatsanwaltschaft in Auftrag gegebenen aussagepsychologischen Gutachten von Luise Greuel die resümierende Angabe wieder, es bestünden erhebliche Zweifel am Wahrheitsgehalt der Aussage der Anzeigeerstatterin. Daraus ergaben sich in der Öffentlichkeit Zweifel am dringenden und möglicherweise auch am hinreichenden Tatverdacht gegen Kachelmann (Blogeintrag).
Nun zitiert auch Focus aus dem Gutachten, allerdings mit entgegengesetzter Tendenz. Greuel habe nämlich geschrieben, dass die Aussage durchaus im Kern wahr sein könne. Zudem hat sie sich angeblich zur Persönlichkeit von Kachelmann selbst geäußert. Das Tatbild entspreche dem eines Narzissten. Zitat Focus (Quelle):
"Das von dem mutmaßlichen Opfer beobachtete Verhalten Kachelmanns an jenem Abend soll sich laut Greuel mit dem typischen Zusammenbruch eines ausgeprägten Narzissten decken, der nach einer schweren Kränkung seiner Wut und Frustration freien Lauf lässt. Vor dem Hintergrund dieser Dynamik könne der Streit zu einem Ausbruch narzisstischer Wut geführt haben. Die Psychologin hält es nach FOCUS-Informatioen für möglich, dass diese Zurückweisung und der plötzliche Kontrollverlust für Kachelmann eine extreme Kränkung bedeuteten. Ausgeprägte Narzissten reagierten auf derartige seelische Verletzungen."
Nun können folgende Möglichkeiten gegeben sein: Entweder eines oder gar beide Nachrichtenmagazine geben hier ein falsches Fazit des Gutachtens wieder, oder aber - wenn beide zutreffend einen Teil des Resümees von Frau Greuel wiedergeben - das Gutachten ist im Ergebnis nicht eindeutig. Für letzteres spricht, dass laut Angabe des Focus Frau Greuel auch geschrieben haben soll, sie stoße an ihre Grenzen. Dass die Sachverständige tatsächlich etwas zum Narzissmus von speziell Herrn Kachelmann geäußert hat, erscheint mir fragwürdig, da eine Untersuchung des Beschuldigten insoweit nicht stattgefunden hat. Die der Gutachterin von Focus zugeschriebenen Äußerungen können daher allenfalls "hypothetisch" angenommen worden sein, nämlich für den Fall, dass die Aussage zutrifft, also um ihren Wahrheitgehalt in puncto Plausibilität zu testen. Mit fragmentarischen Angaben, herausgerissen aus einem umfangreichen Gutachten, in dem auch Hilfsannahmen und hypothetische Erwägungen enthalten sind, wird man aber meist nicht den "Kern" treffen.
Man kann nur hoffen, dass das Gericht das ganze Gutachten sorgfältig liest und richtig einordnet sowie, dass eine Hauptverhandlung, wenn das Hauptverfahren denn eröffnet wird, überzeugende Aufklärung bringt.