Mehr Hauptschulabschlüsse, weniger Mord und Totschlag, 1,42 Milliarden Euro gespart - Kriminologische Ursachenforschung durch Volkswirte
Gespeichert von Prof. Dr. Henning Ernst Müller am
Nicht geringe Aufmerksamkeit hat die jüngst publizierte Studie "Unzureichende Bildung: Folgekosten durch Kriminalität" der Volkswirtschaftler Horst Entorf und Philip Sieger erhalten. Sie wurde im Auftrag der Bertelsmann Stiftung erstellt, auf deren Website sie kostenlos heruntergeladen werden kann (pdf-Dokument, 81 Seiten).
Laut Einleitung kommt die Studie zu dem Ergebnis, es sei:
"erstmals für Deutschland zu belegen, dass es einen kausalen Zusammenhang zwischen unzureichender Bildung in Form eines fehlenden
Hauptschulabschlusses und kriminellem Verhalten gibt. Ein chancengerechteres Bildungssystem könnte damit eine deutliche Reduktion der Gewalt- und Eigentumsdelikte bewirken. Vielfaches persönliches Leid von Opfern und Angehörigen würde vermieden, jeder könnte sich in seinem täglichen Leben sicherer fühlen. Hochgerechnet bedeutet dies: Durch eine Halbierung des Anteils der Schulabgänger ohne Hauptschulabschluss im Jahr 2009 hätten 416 Fälle von Mord und Totschlag, 13.415 Fälle von Raub und Erpressung sowie 320.000 Diebstähle vermieden werden können. 1,42 Milliarden Euro an Folgekosten aufgrund kriminellen Verhaltens könnten – konservativ geschätzt – in nur einem Jahr eingespart werden."
In der Studie selbst wird dann dargelegt, wie man zu diesen Erkenntnissen gelangt ist. Dabei wird der Kausalzusammenhang zwischen unzureichender Bildung (definiert als "ohne Hauptschulabschluss") und kriminellem Verhalten mittels ökonometrischer Analyse belegt, wobei eine Haftinsassenbefragung (1800 Teilnehmer) und die Befragung einer Bevölkerungsstichprobe (1200 Teilnehmer) zugrunde gelegt wurden. Dabei ergibt sich für die Faktoren "Abbruch der Ausbildung" , "ohne Hauptschulabschluss" und "Besuch der Hauptschule" jeweils eine signifikant höhere Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung, und dies unabhängig von anderen relevanten biografischen Faktoren (wie etwa Vorstrafe von Elternteilen oder Trennung der Eltern). Plausibilisert wird dies mit folgender Überlegung:
"Aufgrund des Einflusses dieser Variablen ist zu vermuten, dass insbesondere bei Jugendlichen, die ihren Schulabschluss nicht geschafft haben oder – aus welchen Gründen auch immer – ihre Ausbildung nicht erfolgreich zu Ende führen konnten, die Perspektivlosigkeit auf dem Arbeitsmarkt und die damit verbundenen Folgen für ihre gesellschaftliche Teilhabe dazu führen, dass häufiger kriminelle Verhaltensweisen an den Tag gelegt werden und die Gefahr besteht, in die Kriminalität abzurutschen. Um kriminellem Verhalten wirksam vorzubeugen, ist es daher von entscheidender Bedeutung, Jugendlichen Bildungschancen und, damit verbunden, die Aussicht auf ein selbstbestimmtes und glückliches Leben in Beruf und Gesellschaft zu eröffnen."
Entorf/Sieger kommen in einem weiteren Schritt zu dem Ergebnis, man könne durch Reduzierung des Anteils der Jugendlichen ohne Hauptschulabschluss die Fälle von Raub/Erpressung, von Diebstahl sowie von Mord/Totschlag signifikant reduzieren. Dieser Zusammenhang wird auch monetär ausgedrückt, wohl um deutlich zu machen, dass sich Bildungsinvestitionen bei der Kriminalitätsreduktion auch finanziell "lohnen". So wird einer Reduktion der Jugendlichen ohne Hauptschulabschluss von 10, 25 oder 50 % jeweils die dann eintretende "Einsparung" von Kriminalitätskosten gegenübergestellt und dies sogar auf einzelne Bundesländer heruntergerechnet, wohl um zu zeigen, in welchen Ländern sich Bildungsinvestitionen besonders rechnen.
Mit dem dadurch angeregten bzw. unterstützten Engagement für die Schulbildung (Reformansätze ab S. 54) kann man sich wohl uneingeschränkt identifizieren. Es ist den Forschern zuzustimmen, wenn sie - wegen der plausiblen Zusammenhänge zwischen Bildungsdefiziten und Verhalten - für eine Investition insbes. auch in die Hauptschulbildung plädieren. Das Ziel, Schulabbrüche möglichst zu vermeiden und jedem die Cnace zu geben, eine angemessene und befriedigende Ausbildung und Position in unserer Gesellschaft zu erreichen, ist zudem nicht nur im Hinblick auf Kriminalprävention erstrebenswert.
Freilich muss sich die Studie auch der kriminologischen Kritik stellen, die ich hier nur punktuell darstellen möchte.
In einem Artikel auf Spiegel Online hat bereits Christian Pfeiffer einige Kritikpunkte angeführt, die man dort nachlesen kann. Dass es einen Zusammenhang zwischen (unzureichender) Bildung und Kriminalität gibt, sei eine Banalität, die hier als neue Erkenntnis verkauft werde. Die komplexen Beziehungen der Faktoren untereinander würden dabei nicht beachtet. Schließlich wird auch Kritik daran geübt, dass die Volkswirte für die Kostenberechnung Zahlen aus Großbritannien herangezogen hätten (Quelle).
Meine Kritik setzt an einem anderen Punkt an, nämlich an der von Entorf/Sieger vorgenommenen Operationalisierung von "Kriminalität". Jedem Kriminologen ist klar, dass "Kriminalität" auch das Ergebnis einer Bewertung von Verhalten ist. Daher ist es in der Ursachenforschung enorm wichtig, die zu erklärende Variable "kriminelles Verhalten" von den in Betracht gezogenen möglichen Ursachen unabhängig zu definieren. Man muss zur Vermeidung eines methodischen Zirkels besonders gut darauf achten, dass die gesuchte Ursache nicht schon in das für Kriminalität gewählte Messkriterium eingeflossen ist. Entorf/Sieger haben die "Verurteilung" als Kriterium für Kriminalität gewählt, d.h. sie haben auch bei der Kontrollgruppe aus der allg. Bevölkerung das Kriterium "Verurteilung" ermittelt (S. 25). Gemessen wird damit "der Zusammenhang zwischen Kriminalität und Bildung als erklärendem Faktor (...) durch die Tatsache einer Verurteilung durch ein Gericht" (S. 25).
Strafrechtspraktiker und Kriminologen wissen, dass eine "Verurteilung" am Ende eines Entscheidungsprozesses steht, der mit dem polizeilichen Tatverdacht beginnt und über die weiteren Ermittlungen bis zur Anklageerhebung führt, die aber weniger häufig erfolgt als eine Verfahrenseinstellung. Selbst nach Anklageerhebung können im Hauptverfahren noch Entscheidungen gefällt werden, die eine Verurteilung verhindern. Wir wissen, dass im Jugendstrafrecht ca. 2/3 der Verfahren ohne Anklageerhebung beendet werden und zwar meist nicht mangels Tatverdacht, sondern weil nach Ansicht des Staatsanwalts eine informelle Erledigung (§ 45 JGG) ausreicht. Auch im allg. Strafrecht erfolgt ein hoher Anteil von Opportunitätseinstellungen nach §§ 153 f. StPO. In die Bewertung, ob eine Anklageerhebung/Verurteilung erforderlich ist oder nicht, fließen auch die durch kriminologische Alltagstheorien geprägten Ansichten der Praktiker ein, bei welchen Beschuldigten auch ohne Verurteilung ein erzieherischer Zweck eintreten wird und bei welchen nicht. Und eine dieser plausiblen Alltagstheorien, deren Bewertungsgrundlage auch meist relativ leicht den Akten zu entnehmen ist, ist etwa Schulabbruch bzw. mangelnde Schulbildung und/oder fehlender Ausbildungsplatz oder langfristige Arbeitslosigkeit als "Risikofaktoren" für kriminelles Verhalten. Zudem fließt in diese Entscheidungen ein, wie gut oder schlecht sich jemand bei einem Tatverdacht verteidigen kann, und ob er z.B. Geld für einen Strafverteidiger aufbringen kann oder nicht. D.h. aber: Als Grundlage für eine Untersuchung, ob der fehlende Hauptschulabschluss "Ursache" für "kriminelles Verhalten" ist, ist es ungeeignet, die "Verurteilung" zur Messung heranzuziehen. Denn damit wird die mangelnde Bildung als "Ursache" des Verhaltens ermittelt, wo sie doch möglicherweise zu einem gewissen Anteil Ursache der Bewertung dieses Verhaltens ist. Dieser Zusammenhang ist Kriminologen selbstverständlich geläufig seit Lombroso mit seiner Vermessung der Körper und Gesichtszüge von Inhaftierten mit kriminologischer "Ursachenforschung" begann, aber eigentlich nur belegte, dass Menschen mit auffälligen Gesichtszügen und Körpermaßen ein höheres Risiko tragen, verdächtigt und eingesperrt zu werden. Volkswirte, die sich regelmäßig mit ganz anderen Daten befassen, haben hier möglicherweise einen dunklen Fleck.
Bei der entscheidenden Tabelle 5 (S. 26), die jeweils die Abhängigkeit der Verurteilung von einzelnen Faktoren darstellt, ergibt sich das mangelnde Verständnis unmittelbar aus dem erläuternden Satz in der Fußnote und im Text auf S. 27:
"Eine Person ohne Hauptschulabschluss hat eine um 12,8 Prozentpunkte höhere Wahrscheinlichkeit verurteilt zu werden als jemand aus der Gruppe der Realschulabsolventen und Abiturienten."
Diesen Satz versteht ein Kriminologe wörtlich - nämlich, dass mangelnde Schulbildung die Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung erhöht - wobei dieser Zusammenhang unterschiedliche Gründe haben kann. Entorf/Sieger meinen aber, die höhere Wahrscheinlichkeit, verurteilt zu werden, beweise zugleich, dass Menschen mit fehlendem Schulabschluss mit höherer Wahrscheinlichkeit eine Straftat begehen. Sie setzen eben "Verurteilung" mit "Kriminalität" gleich, besonders deutlich auf S. 29, wo der Begriff "Verurteilung" in aufeinander folgenden Sätzen mit Kriminalität und Legalverhalten bzw. kriminellem Verhalten gleichgesetzt wird. Nur ergänzend wird auch eine Dunkelfeldbefragung als Messkriterium erwähnt (S. 25), allerdings nur hinsichtlich der Begehung eines Kaufhausdiebstahls, und gänzlich ohne Problembewusstsein: So hätte es Entorf/Sieger doch auffallen müssen, dass die einzige echte Dunkelfeldprobe zugleich "die einzige ohne signifikanten Einfluss der Bildungsvariablen ist" (S. 32). Wenn sie daraus schlussfolgern, diese Art der Kriminalität sei eben nicht nur in unteren Bildungsschichten verbreitet, belegt dies erneut, dass sie den Unterschied zwischen kriminellem Verhalten und "Verurteilung" in einer ganz enstcheidenden Dimension verkennen.
Auch in der Frage, ob Vermeidung von unzureichender Bildung tatsächlich Kriminalitätskosten einspart, darf man zweifeln: Da die Einstellungsquoten auch in gewisser Weise die Kapazitätslasten der Justiz spiegeln, ist gar nicht ausgemacht, ob die Zahl der Verurteilungen sinkt, wenn eine bestimmte "Ursache" wegfällt. Die bis auf den einzelnen Cent berechnete - und damit Präzision vortäuschende - Kostenersparnis, hängt ebenfalls von so vielen weichen und flexiblen Faktoren ab, dass sie kaum in der Art eintreten wird wie von Entorf/Sieger vorhergesagt.
Fazit: Das Ergebnis der Studie, ein Plädoyer für Bildungsinvestitionen am unteren Ende der Skala, ist sicherlich richtig. Ob es mit der Studie gelungen ist, unzureichende Bildung als isolierte Ursache für kriminelles Verhalten nachzuweisen, kann dagegen bezweifelt werden.