Debatte um Gewalttat in Berliner U-Bahn
Gespeichert von Prof. Dr. Henning Ernst Müller am
Nach der brutalen Attacke zweier 18jähriger auf einen 29jährigen im Berliner U-Bahnhof Friedrichstraße hat sich angesichts der verbreiteten Aufnahmen der Videoüberwachungskamera erneut eine öffentliche Debatte um den richtigen Umgang mit Jugendlichen, die Gewaltakte verüben, entwickelt. Die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen den geständigen Beschuldigten wegen versuchten Totschlags und hat bereits zugesagt, in relativ kurzer Zeit Anklage zu erheben. Zwei Aspekte werden dabei öffentlich intensiv diskutiert (s.a. den Beitrag und die kontroverse Debatte auf Spreeblick):
1. Besonders empört wurde in der Öffentlichkeit (z. B. SZ-Online) aufgenommen, dass der Hauptbeschuldigte bis zum Prozess nicht in Untersuchungshaft genommen wurde. Dabei erweckten einige Presseberichte zunächst den falschen Eindruck, der Beschuldigte sei damit "frei" und müsse gar nicht mit Inhaftierung rechnen (dazu Bild-Blog). Ebenfalls falsch ist die Nachricht, das Gericht habe einen Haftbefehl bzw. Haftgründe verneint. Christian Pfeiffer, Direktor des KFN und ehemaliger niedersächsischer Justizminister, wird so zitiert:
"Ich bin überrascht, dass der Täter sofort wieder freigekommen ist", sagt Pfeiffer. Man könne in diesem Fall von einem versuchten Totschlag ausgehen: "Und dann ist man ganz schnell bei einer Jugendstrafe ohne Bewährung und einer möglichen Fluchtgefahr." (Quelle)
Pfeiffer spielt hier wohl auf § 112 Abs. 3 StPO an, nach dessen Wortlaut bei Totschlagsverdacht (einschl. Versuch) Haftgründe nicht erforderlich sind. Allerdings ist § 112 Abs.3 StPO verfassungskonform dahingehend auszulegen, dass durchaus Haftgründe vorliegen müssen, Anhaltspunkte für die anzunehmenden Gefahren (insb. Fluchtgefahr, Wiederholungsgefahr) jedoch nur nicht auszuschließen sein müssen. Erhellend dazu ein Zitat aus der einschlägigen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1966 - dies sollte auch Herrn Pfeiffer bekannt sein:
"Weder die Schwere der Verbrechen wider das Leben noch die Schwere der (noch nicht festgestellten) Schuld rechtfertigen für sich allein die Verhaftung des Beschuldigten; noch weniger ist die Rücksicht auf eine mehr oder minder deutlich feststellbare „Erregung der Bevölkerung” ausreichend, die es unerträglich finde, wenn ein „Mörder” frei umhergehe. Es müssen vielmehr auch hier stets Umstände vorliegen, die die Gefahr begründen, daß ohne Festnahme des Beschuldigten die alsbaldige Aufklärung und Ahndung der Tat gefährdet sein könnte. Der zwar nicht mit „bestimmten Tatsachen” belegbare, aber nach den Umständen des Falles doch nicht auszuschließende Flucht- oder Verdunkelungsverdacht kann u.U. bereits ausreichen." (BVerfGE 19, 342 ff. = NJW 1966, 243)
Im vorliegenden Fall wurde allerdings durchaus Untersuchungshaft angeordnet und lediglich der Vollzug derselben nach § 116 StPO ausgesetzt, also der Beschuldigten von der Untersuchungshaft verschont. Im Ergebnis wird man daher wohl grundsätzlich dem Vorsitzenden des Deutschen Richterbundes, Finkel, zustimmen:
„Da es sich hier um einen unvorbestraften Heranwachsenden handelt, der sich selbst gestellt hat und der die Tat voll umfänglich eingeräumt hat, liegen nach Auffassung des Gerichts offensichtlich die Voraussetzungen für eine Haftverschonung vor.“ (Quelle)
Ebenfalls zutreffend die Reaktion der Berliner Strafverteidiger auf einen widerlichen persönlichen Angriff der Berliner Springerpresse gegen den Richter, der die Haftverschonung gewährte (via Kanzlei-Hoenig).
Freilich ist zu konstatieren, dass die Gnade der Haftverschonung relativ ungleich verteilt wird: Im hiesigen Fall entstammt der Beschuldigte "gutem Hause", was schon der Struktur des Gesetzes nach eine Haftverschonung leichter ermöglicht.
2. Zudem entwickelte sich die rechtspolitische Debatte wiederum in Richtung "Warnschussarrrest" (siehe hier). Mit diesem Wort wird eine seit Langem in der Jugendstrafrechtspraxis und -literatur diskutierte Maßnahme verstanden, bei der Jugendstrafe, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde, mit einem mehrwöchigen Jugendarrest kombiniert werden soll. Eine entsprechende Regelung soll nach dem Koalitionsvertrag in das JGG aufgenommen werden (vgl. schon hier im Beck-Blog). Die Argumente hierzu sind längst ausgetauscht. Soweit ich sehe, gibt es kaum Neues dazu zu sagen. Keinesfalls führt ein Warnschussarrest dazu, dass einem (mutmaßlichen) Straftäter wesentlich schneller oder gar schon vor einer Verurteilung eine "Warnung" erteilt wird, wie es offenbar einige Politiker unterstellen. Im hier besprochenen Fall würde ein Warnschussarrest auch nur dann in Betracht kommen, wenn die zu erwartende Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt würde. Und da der Hauptbeschulidgte bislang nicht bestraft wurde, kam auch zuvor kein solcher Arrest in Betracht.
Für sehr empfehlenswert in diesem Kontext halte ich diesen Bericht von Susanne Leinemann auf Zeit-Online, eine Frau die selbst von jugendlichen Gewalttätern überfallen wurde. Ihr Bericht macht betroffen und nachdenklich.