Bundesverfassungsgericht: Bisherige Regelungen zur Sicherungsverwahrung verfassungswidrig! (Update)
Gespeichert von Prof. Dr. Henning Ernst Müller am
Soeben hat das BVerfG (hier jetzt die Pressemitteilung, hier der Volltext des Urteils) die Vorschriften über die Sicherungsverwahrung, insbesondere die nachträgliche Sicherungsverwahrung, einschließlich der nachträglichen Sicherungsverwahrung im Jugendstrafrecht (siehe schon hier), für verfassungswidrig erklärt. Für eine Neuregelung wurde dem Gesetzgeber eine Frist bis 31.05.2013 eingeräumt, solange gelten die Vorschriften unter bestimmten Maßgaben fort.
Gefangene, deren weitere Inhaftierung wegen Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot schon vom EGMR als gegen die MRK verstoßend als rechtswidrig bezeichnet wurde ("Altfälle"), sollen ebenfalls nicht unmittelbar freigelassen werden. Hier wird vom BVerfG eine unverzügliche gerichtliche Überprüfung bis spätestens zum 31.12.2011 angeordnet. Nur "hochgradig gefährliche" Täter, bei denen schwerste Sexual- oder Gewaltdelikte befürchetet werden, und die "psychisch gestört" sind, dürfen weiterhin verwahrt bleiben.
In den sog. Altfällen, in denen die Unterbringung der Sicherungsverwahrten über die frühere Zehnjahresfrist hinaus fortdauert, sowie in den Fällen der nachträglichen Sicherungsverwahrung darf die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung bzw. deren Fortdauer nur noch angeordnet werden, wenn eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Untergebrachten abzuleiten ist und dieser an einer psychischen Störung im Sinne von § 1 Absatz 1 Nr. 1 des Therapieunterbringungsgesetzes (ThUG) leidet. Die Vollstreckungsgerichte haben unverzüglich das Vorliegen dieser Voraussetzungen der Fortdauer der Sicherungsverwahrung zu prüfen und anderenfalls die Freilassung der betroffenen Sicherungsverwahrten spätestens zum 31. Dezember 2011 anzuordnen. (Quelle)
Also können sich demnach wohl etliche der betroffenen Gefangenen ("Altfälle") Hoffnung machen, dass sie bis Ende des Jahres entlassen werden.
Das BVerfG hat damit seine Entscheidung vom 5.2.2004, 2 BvR 2029/01 (BVerfGE 109, 133) revidiert und ist einen großen Schritt auf die anderslautende Entscheidung des EGMR vom Dezember 2009 zugegangen. Der Europ. Menschenrechtskonvention wurde ein wesentlicher Einfluss auf die Verfassungsinterpretation zugestanden ("völkerrechtsfreundliche Auslegung"):
Die Europäische Menschenrechtskonvention steht zwar innerstaatlich im Rang unter dem Grundgesetz. Die Bestimmungen des Grundgesetzes sind jedoch völkerrechtsfreundlich auszulegen. Der Konventionstext und die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte dienen auf der Ebene des Verfassungsrechts als Auslegungshilfen für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite von Grundrechten und rechtsstaatlichen Grundsätzen des Grundgesetzes. (Quelle)
Als erster Grund für die Verfassungswidrigkeit der bisherigen Sicherungsverwahrung wird der mangelnde Abstand zwischen Straf- und Sicherungsverwahrungsvollzug genannt:
Die grundlegend unterschiedlichen verfassungsrechtlichen Legitimationsgrundlagen und Zwecksetzungen von Freiheitsstrafe und Sicherungsverwahrung erfordern einen deutlichen Abstand des Freiheitsentzugs durch Sicherungsverwahrung zum Strafvollzug (sog. Abstandsgebot).(Quelle)
Insbesondere die detailreichen Ausführungen und Vorgaben im Urteil zum verfassungsgemäßen Vollzug der "neuen" Sicherungsverwahrung mit dem Ziel einer "realistischen Entlassungsperspektive" sind sehr beachtlich (und werden Bund und Länder auch vor erhebliche finanzielle Herausforderungen stellen).
Allerdings ist das BVerfG nicht den ganzen Weg auf den EGMR zugegangen. Die nachträgliche Anordnung und Verlängerung der Sicherungsverwahrung soll nach wie vor nicht gegen das Rückwirkungsverbot aus Art. 103 Abs.2 GG verstoßen:
Zur Anpassung des grundgesetzlichen Begriffs der Strafe in Art. 103 Abs. 2 GG – und damit zugleich des Art. 103 Abs. 3 GG – an den Strafbegriff des Art. 7 Abs. 1 EMRK besteht demzufolge kein Anlass. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte selbst führt insoweit aus, der Begriff der „Strafe“ im Sinne von Art. 7 EMRK sei „autonom“ auszulegen; er – der Gerichtshof – sei an die Einordnung einer Maßnahme nach nationalem Recht nicht gebunden (EGMR, Urteil vom 17. Dezember 2009, Beschwerde-Nr. 19359/04, M. ./. Deutschland, Rn. 126). Diese Art der Begriffsbildung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte hat für die Zwecke der Europäischen Menschenrechtskonvention ihre Berechtigung. Die Unabhängigkeit der Begriffsbildung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und die damit notwendig verbundene Flexibilität und Unschärfe tragen der rechtlichen, sprachlichen und kulturellen Vielfalt der Mitgliedstaaten des Europarates Rechnung (vgl. Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, 4. Aufl. 2009, § 5 Rn. 9 ff.). Für die gewachsene Verfassungsordnung des Grundgesetzes ist dagegen an dem Begriff der Strafe in Art. 103 GG, wie er in der Entscheidung vom 5. Februar 2004 (BVerfGE 109, 133 <167 ff.>) zum Ausdruck gekommen ist, festzuhalten.(Urteil, Rz. 142)
Vielmehr wird die Verfassungswidrigkeit mit einem Verstoß gegen den grundrechtlichen Vertrauensschutz (Rechtstaatsgebot) begründet, der durch die Wertungen des EGMR (zu Art. 5 und Art.7 EMRK) verstärkt werde:
Zudem verletzten die mit den Verfassungsbeschwerden angegriffenen Vorschriften zur nachträglichen Verlängerung der Sicherungsverwahrung über die frühere Zehnjahreshöchstfrist hinaus und zur nachträglichen Anordnung der Sicherungsverwahrung das rechtsstaatliche Vertrauensschutzgebot aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG. (Quelle)
Die Bedeutung des Vertrauensschutzes war von der früheren Entscheidung des BVerfG (BVerfGE 109, 133) verkannt worden und dies wird nun korrigiert, allerdings erlaubt es der Bezug auf den Vertrauensschutzgedanken, anders als es bei einem Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot der Fall wäre, dass man den Schutz der Bevölkerung in die Abwägung mit einbezieht. Hätte das Gericht einen Verstoß gegen Art. 103 Abs.2 GG festgestellt, dann wäre nur die sofortige Freilassung aller von rückwirkender Verlängerung oder Anordnung betroffenen Gefangenen in Betracht gekommen, denn das Rückwirkungsverbot ist absolut. Der Vertrauensschutz kann aber im Hinblick auf "hohe Gefahren" eingeschränkt werden (dazu Urteil Rz. 131 ff.).
Offenbar meint man, gegen eine auch nachrägliche Sicherungsverwahrung "hoch gefährlicher" und "psychisch gestörter" Straftäter, die dann im Vollzug auch nicht mehr wie Freiheitsstrafe wirke, werde das EGMR nichts mehr einzuwenden haben.
Etwas irritierend ist die Nachbesserungsfrist, die dem Gesetzgeber eingeräumt wurde, denn dass Neuregelungsbedarf besteht, ist ja seit längerer Zeit bekannt. Dennoch hat der Gesetzgeber eine Neuregelung nur für künftige Taten erlassen, nicht aber für diejenigen Gefangenen, die derzeit schon im Freiheitsstrafvollzug einsitzen - gegen sie kann nach wie vor nachträglich Sicherungsverwahrung angeordnet werden. Dass dieser verfassungswidrige Zustand weitere zwei Jahre bestehen bleiben darf, ist sehr großzügig.
(Beitrag wurde - zuletzt um 17:00 Uhr - ergänzt)