Loveparade 2010 – ein Jahr danach: Staatsanwaltliche Bewertung von Januar 2011 sickert durch
Gespeichert von Prof. Dr. Henning Ernst Müller am
Die hier im Blog so intensiv diskutierte tödliche Massenturbulenz bei der Loveparade 2010 Duisburg erregt kurz vor dem Jahrestag am 24.07. erneut auch allgemeine Aufmerksamkeit.
Zum einen hat gestern der Duisburger OB Sauerland einige Worte der Entschuldigung geäußert, allerdings eingeschränkt durch die explizite Bezugnahme und Einschränkung auf seine „moralische Verantwortung“. Ich kann verstehen, dass das bei Betroffenen und Duisburger Bürgern eher Kopfschütteln hervorruft. Die Erklärung kommt sehr spät. Und der Begriff „moralische Verantwortung“ ist ebenso unbestimmt wie die Folgen daraus.
Dass Herr Sauerland nach den Ermittlungsergebnissen der Staatsanwaltschaft voraussichtlich nicht strafrechtlich verantwortlich ist, ergibt sich aus einem staatsanwaltlichen „Einleitungsvermerk“ vom Januar 2011, auf 452 Seiten eine Art Zwischenergebnis der Ermittlungen samt rechtlichen Bewertungen.
Seit Wochen wird im Landtag von NRW darüber diskutiert, ob man den interessierten Abgeordneten diesen staatsanwaltlichen Vermerk vom Januar zur Verfügung stellen kann. Die Opposition im Landtag hatte das vehement gefordert – zuletzt wollte die Regierung einigen Abgeordneten die Einsicht gestatten, ihnen anschließend aber einen „Maulkorb“ für die inhaltliche Diskussion anlegen. Aber eine solche Geheimhaltung erscheint mittlerweile kaum noch nachvollziehbar, denn derweil ist der Vermerk der Staatsanwalt auf breiter Basis durchgesickert (neudeutsch „geleakt“), und seine Inhalte werden seit Mai auf dem halböffentlichen Markt verbreitet, beginnend mit dem „Spiegel“, der daraus eine Titelgeschichte zimmerte (dazu hier im Blog).
Mittlerweile liegt der Bericht offenbar einer ganzen Reihe von Journalisten vor, am Montag berichtete Tagesthemen daraus, und auch ich habe inzwischen eine Kopie.
Aus einer zu frühen Bekanntgabe vorläufiger staatsanwaltlicher Ermittlungsergebnisse und deren rechtlicher Bewertung darf weder eine Störung der Ermittlungen resultieren noch eine Beeinträchtigung von Persönlichkeitsrechten der Beschuldigten, für die ja die Unschuldsvermutung gilt. Für die Ermittlungen kann etwa die Gefahr bestehen, dass sich weitere Zeugen in ihren potentiellen Aussagen abstimmen, wenn sie den derzeitigen Ermittlungsstand sowie andere Zeugenaussagen, die dort zitiert werden, kennen. Jedoch halte ich diese Gefahr sechs Monate nach der Anfertigung des Vermerks für nur noch eingeschränkt gegeben. Mittlerweile werden sicherlich weitere Zeugen gehört worden sein, und ob die rechtliche Bewertung noch dem heutigen Stand entspricht, ist fraglich. Die Namen einiger der Beschuldigten werden zudem unabhängig von diesem Einleitungsvermerk seit Wochen in der Öffentlichkeit diskutiert.
Trotzdem sollte man bei der Veröffentlichung von Einzelheiten aus dem Vermerk sehr vorsichtig sein, um keine der betreffenden Gefahren zu schüren.
Zum Inhalt:
Der staatsanwaltliche Vermerk von Januar bietet in der Gesamtschau für diejenigen, die sich seit Ende Juli 2010 mit der Thematik beschäftigen, wenig Überraschendes. Diejenigen Ursachenzusammenhänge, die die Staatsanwaltschaft nach ihren sehr aufwändigen Ermittlungen für relevant hält, wurden auch hier (und auf anderen Internet-Plattformen) schon identifiziert: Die schon von der Kapazität her unzureichende, deshalb gefährliche Planung der Ein- und Ausgangssituation im Sicherheitskonzept des Veranstalters, die Nichteinhaltung von Auflagen der Genehmigung (fehlende Lautsprecher, Barrierefreiheit der Rampe, fehlende Ordner), die unzureichende, ja in Teilen chaotische Reaktionsweise am Veranstaltungstag. Natürlich enthält der Vermerk dann auch die Benennung von individuellen Beschuldigten und ihren jeweiligen Beiträgen – etwas, was hier im Beck-Blog Blog ja bislang weitgehend ausgespart blieb.
Dennoch sind einige Abweichungen in der tatsächlichen und rechtlichen Bewertung schon bemerkenswert. Und diese können hier auch unter Beachtung der oben genannten Einschränkungen diskutiert werden:
Z. B. zur Frage der formellen Rechtswidrigkeit der Genehmigung – speziell, ob ein Einvernehmen mit den Sicherheitsbehörden, v.a. der Polizei, hergestellt wurde
Z. B. zur Frage der materiellen Rechtswidrigkeit der Genehmigung – speziell, ob die untere Baubehörde das Sicherheitskonzept eigenständig hätte prüfen müssen und ob diese Prüfung fehlerhaft erfolgte bzw. rechtswidrig unterblieb.
Z. B. zur Frage, ob die Einrichtung von Sperren in den Tunnels und auf der Rampe eine strafrechtliche Verantwortung der Polizei begründen kann.
Z.B. zur Frage, wann genau die Polizei das Ruder hätte übernehmen müssen und ob sie dies zu spät getan hat.
Letztlich unbefriedigend bleibt die Aufklärung hinsichtlich eines Polizeibeamten, der angeblich auf der Westseite verfügt haben soll, die Eingänge zu öffnen, zu einem Zeitpunkt, als dies zur unmittelbaren Verschärfung der Enge auf der Rampe führen musste – die StA konnte ihn offenbar (bis Januar 2011) nicht ermitteln.
Ebenso unbefriedigend bleiben die Ermittlungen zu dem durch einen Bauzaun abgedeckten defekten Kanaldeckel – möglicherweise unmittelbarer Auslöser des tödlichen „Menschenknäuels“ vor der Treppe. Hier gibt es zwar einige Hinweise, aber noch kein echtes Ermittlungsergebnis hinsichtlich einer Verantwortlichkeit.
Es bleibt also ungeachtet des Einleitungsvermerks noch einiges zu erörtern an dieser Stelle. Die inzwischen sehr unübersichtlich gewordene Diskussion von Mai 2011 habe ich nun geschlossen. Ich bitte alle Kommentatoren, nun hier weiter zu diskutieren.
Hier die Links zu den früheren Diskussionen hier im Beck-Blog in umgekehrter Chronologie:
Mai 2011 (1100 Kommentare, ca. 7500 Abrufe)
Dezember 2010 (537 Kommentare, ca. 8000 Abrufe)
September 2010 (788 Kommentare, ca. 16000 Abrufe)
Juli 2010 (465 Kommentare, ca. 23000 Abrufe)
Ergänzend:
Link zur großen Dokumentationsseite im Netz:
Link zur Seite von Lothar Evers:
DocuNews Loveparade Duisburg 2010
Link zur
Großen Anfrage der FDP-Fraktion im Landtag NRW