Recht braucht dem Unrecht nicht zu weichen
Gespeichert von Prof. Dr. Henning Ernst Müller am
In der Vorlesung lässt sich das - spezifisch deutsche - Notwehrverständnis nach § 32 StGB meist relativ leicht vermitteln. In der Praxis ist die Ausübung einer Notwehrhandlung, jedenfalls durch den "Normalbürger", dennoch mit einem gewissen Risiko verknüpft, angeklagt und sogar verurteilt zu werden. Mit einer Revisionsentscheidung des OLG Koblenz (Beschluss vom 17.01.2011 - 2 Ss 234/10) wurde ein Berufungsurteil des LG (6 Monate Freiheitsstrafe) aufgehoben und der Angeklagte freigesprochen. Dabei war, anders als in vielen anderen Fällen, der tatsächliche Ablauf nicht umstritten
Nach den Feststellungen des Landgerichts hatte der Nebenkläger den Angeklagten bereits im Jahre 2006 aus nichtigem Anlass geohrfeigt; seit diesem Vorfall war es immer wieder zu verbalen Auseinandersetzungen zwischen beiden gekommen. Am frühen Abend des 22. Februar 2007 trafen beide vor dem A.-Supermarkt in M. aufeinander, wo es wieder zu einer verbalen Auseinandersetzung mit wechselseitigen Beleidigungen kam. Daraufhin entfernten sich der Angeklagte und seine Begleiterin, die Zeugin G., um der weiteren Auseinandersetzung aus dem Weg und nach Hause zu gehen. Der Nebenkläger folgte ihnen jedoch mit seinem Pkw, um den Angeklagten zur Rede zu stellen und gegebenenfalls tätlich anzugreifen. Als er ihn im Bereich der F-Straße erreichte, stieg er aus seinem Fahrzeug aus, ging auf den Angeklagten von hinten zu und rief diesen an. Daraufhin wappnete sich der Angeklagte, weil er einen ähnlichen tätlichen Übergriff des Nebenklägers wie 2006 befürchtete, indem er die Einkaufstaschen abstellte, ein Taschenmesser mit einer Klingenlänge von 6,5 cm öffnete und sich zu dem Nebenkläger umdrehte. Als der Nebenkläger den Angeklagten erreichte, schlug er diesem sofort mit der linken Hand ins Gesicht, wodurch der Angeklagte eine klaffende und blutende Wunde erlitt. Ob der Nebenkläger hierbei etwas in der Hand hielt, konnte nicht näher ermittelt werden. Unmittelbar nachdem er den schmerzhaften Schlag ins Gesicht erhalten hatte, stach der Angeklagte dem Nebenkläger durch dessen Kleidung hindurch mit dem Messer in den linken Unterbauch. Der Nebenkläger erlitt hierdurch eine ca. 1 cm große, blutende Stichwunde, wobei sich um die Einstichstelle herum ein Hämatom bildete; wegen dieser Verletzung musste er stationär behandelt werden. Nach dem Messerstich endete die Auseinandersetzung.
Dass ein rechtswidriger Angriff vorlag, gegen den sich der Angeklagte verteidigen wollte, lag auf der Hand. Fraglich war allein die Erforderlichkeit der Abwehr mit einem Messer gegen den nicht (jedenfalls nicht mit einem Messer) bewaffneten Angreifer. Aber auch dies dürfte kaum einem Studenten schwer fallen: Eine Verhältnismäßigkeit zwischen Angriff(smittel) und Gegenwehr ist eben im deutschen Strafrecht nicht vorgesehen. Sofern hier kein völliges Missverhältnis vorliegt, kann sich der Angegriffene des Abwehrmittels bedienen, das ihm zur Verfügung steht und geeignet ist, den Angriff sofort zu stoppen. Das Risiko trägt der Angreifer. Das Recht braucht dem Unrecht nicht zu weichen.
Das schließt grundsätzlich auch den Einsatz lebensgefährlicher Mittel, wie etwa den Gebrauch eines Messers, ein. Zwar kann dieser nur in Ausnahmefällen in Betracht kommen und darf auch nur das letzte Mittel der Verteidigung sein; doch ist der Angegriffene nicht genötigt, auf die Anwendung weniger gefährlicher Mittel zurückzugreifen, wenn deren Wirkung für die Abwehr zweifelhaft ist (vgl. BGH NStZ 2002, 140, zit. n. Juris Rdnr. 8 mwN). Das Gesetz verlangt von keinem, der rechtswidrig angegriffen wird, ohne dass er den Angriff schuldhaft verursacht hat, dass er unter Preisgabe seiner Ehre oder anderer berechtigter Belange die Flucht ergreift oder auf andere Weise dem Angriff ausweicht, wenn nicht besondere Umstände vorliegen, welche das Notwehrrecht einschränken (vgl. BGH NJW 1980, 2263, zit. n. Juris Rdnr. 8).
Zwar muss der Einsatz eiens lebensgefährlichen Mittels grundsätzlich angedroht werden, aber auch dies nur, wenn es die Lage erlaubt, ohne dass der Angegriffene dadurch seine Notwehrchance mindert.
Schulmäßig entscheidet das OLG Koblenz weiter:
In der gegebenen Kampfsituation, in der er bereits einen Faustschlag erhalten hatte und weitere Schläge zu befürchten waren, bestand für ihn auch keine Gelegenheit, den Einsatz des Messers anzudrohen oder darüber nachzudenken, ob eine Abwehr ohne Einsatz des Messers den Angriff genauso gut hätte abwehren können. In dieser Lage, die eine schnelle und endgültige Beseitigung der Gefahr erforderte, brauchte sich der Angeklagte nicht auf Mittel und Möglichkeiten verweisen lassen, deren Abwehrerfolg ungewiss war. Insbesondere war er nicht gehalten, dem rechtswidrigen Angreifer gegenüber mit gleichen Mitteln, also mit den Fäusten, zurückzuschlagen oder gar zurückzuweichen und zu flüchten.
Ein Fall des Missbrauchs des Notwehrrechts wegen geringen Gewichts des angegriffenen Rechtsguts (sog. Bagatellfälle) liegt ebenso wenig vor wie der einer Notwehrprovokation.
Nach alledem war seine Tat durch Notwehr gerechtfertigt.
Fragt sich nur, warum die Richter des AG und LG die gleiche Sachlage rechtlich anders bewerteten. Vorlesung Strafrecht AT geschwänzt?
Update: Prof. Matthias Jahn hat den Fall in der JuS (2011, 655) für "Vorlesungsschwänzer" besprochen, bei Beck-Online hier zu finden.
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