Bundesverfassungsgericht zur "psychischen Störung" als Grundlage für "Therapieunterbringung"
Gespeichert von Prof. Dr. Henning Ernst Müller am
Das BVerfG hat in einem vor gut zwei Wochen getroffenen Beschluss seine Rechtsprechung zur Sicherungsverwahrung ergänzt und sich insbesondere (obiter dictum) zum Begriff der "schweren psychischen Störung" als neuer Voraussetzung für die weitere Unterbringung "gefährlicher" Starftäter nach Verbüßung ihrer Freiheitsstrafe geäußert:
Wie den Gesetzgebungsmaterialien zu entnehmen ist, hat der Gesetzgeber mit dem Begriff der „psychischen Störung“ ausdrücklich auf die vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu Art. 5 Abs. 1 Satz 2 lit. e) EMRK entwickelten Voraussetzungen für eine Freiheitsentziehung Bezug genommen. Er hat damit in Abweichung von der bisherigen Rechtslage, in der lediglich zwischen der Unterbringung gefährlicher Straftäter in einer Justizvollzugsanstalt zu Präventionszwecken auf der einen und der Unterbringung psychisch Kranker, die im Zustand der Schuldunfähigkeit oder der verminderten Schuldfähigkeit Straftaten begangen hatten (§§ 20, 21, 63 StGB), auf der anderen Seite unterschieden wurde, erstmals die besonderen Voraussetzungen des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 lit. e) EMRK konkretisiert und eine weitere Unterbringungsart für psychisch gestörte, für die Allgemeinheit gefährliche Personen geschaffen, bei der im Rahmen des Verfahrens eine psychische Störung festgestellt und die Unterbringung sodann nicht in einer Justizvollzugsanstalt, sondern in einer therapeutischen Anstalt vollzogen wird (BVerfG, a.a.O., S. 1946 <Rn. 173>). Damit hat der Gesetzgeber gerade nicht an die vorhandenen gesetzlichen Regelungen, insbesondere die §§ 20, 21 StGB angeknüpft, sondern ersichtlich eine neue dritte und damit eigenständige Kategorie geschaffen, die das Verständnis der psychischen Störung nach der Europäischen Menschenrechtskonvention aufgreift und sich unterhalb der Schwelle von §§ 20, 21 StGB einordnet. Dementsprechend setzt der Begriff der psychischen Störung im Sinne von § 1 Abs. 1 Nr. 1 ThUG gerade nicht voraus, dass der Grad einer Einschränkung der Schuldfähigkeit nach §§ 20, 21 StGB erreicht wird. Vielmehr sind auch spezifische Störungen der Persönlichkeit, des Verhaltens, der Sexualpräferenz sowie der Impuls- und Triebkontrolle unter diesen Begriff zu fassen; gleiches gilt insbesondere auch für die dissoziale Persönlichkeitsstörung (BVerfG, a.a.O., S. 1943 <Rn. 152>, S. 1946 <Rn. 173>; vgl. dazu auch BGH, Beschluss des 5. Strafsenats vom 23. Mai 2011 - 5 StR 394/10 u.a. -, juris Rn. 7, sowie Beschluss vom 21. Juni 2011 - 5 StR 52/11 -, juris Rn. 24).Dies entspricht dem Willen des Gesetzgebers, der ausdrücklich darauf hinweist, dass auch ein „weiterhin abnorm aggressives und ernsthaft unverantwortliches Verhalten eines verurteilten Straftäters“ - und zwar unabhängig vom Vorliegen einer im klinischen Sinn behandelbaren psychischen Krankheit - nach Art. 5 Abs. 1 Satz 2 lit. e) EMRK eine Freiheitsentziehung rechtfertigen kann und in diesem Sinne auch der Begriff der psychischen Störung des § 1 Abs. 1 Nr. 1 ThUG zu verstehen sei (BTDrucks 17/3403, S. 53 f.).
Ersichtlich war dies eine Reaktion darauf, dass die im vorherigen Verfahren gehörten Gutachter teilweise dem Betroffenen zwar "dissoziale Verhaltenszüge in psychopathischer Ausprägung", sowie "zweifelsfrei ein Hochrisikoproband" zu sein und "in eine hohe Gefährlichkeitsstufe einzuordnen", aber nicht zur Überzeugung des vorbefassten OLG Hamm eine "schwere psychische Störung" attestierten. Das OLG Hamm hatte sich dabei ausdrücklich an § 20 StGB orientiert. Das, so nun das BVerfG, ist eine zu hohe Schwelle. Es genüge eine schwere psychische Störung ohne Krankheitswert.
In der Tat, orientiert man sich bei der psychischen Störung allein an § 20 StGB, dann stellt man das ganze Konzept in Frage, denn dann wäre der vom Gesetzgeber so vorgesehene "dritte Weg" für die Therapieunterbringung nach Freiheitsstrafvollzug nicht vorhanden. Aber wie die "schwere psychische Störung" von der bloßen "Gefährlichkeit" genau zu differenzieren ist, das bleibt wohl dennoch eine offene Frage. Richtig ist insoweit, dass der Störungsbegriff durchaus weiter gefasst sein kann als der Krankheitsbegriff (man beachte die Differenzierung "krankhafte Störung" und "andere seelische Abartigkeit" in § 20 StGB). Auch solche Störungen können beachtlich sein, die nicht die Folge der §§ 20, 21 auslösen (würden). Aber wie groß ist dieser Bereich empirisch, denn es wird ja auch in § 20 StGB bei den "seelischen Abartigkeiten" (also den psychischen Störungen) nach der "Schwere" der Störung differenziert? Eine mögliche Differenz besteht dann darin, dass die mit § 20 StGB gemeinten psychischen Störungen zugleich geeignet sind, die Schuldunfähigkeit herbeizuführen, während die in ThUG gemeinten die Gefährlichkeit des Täters begründen. Aber dies ist eine wohl eher rechtspragmatische als empirische Lösung.
Zudem ist zu fragen, ob man mit "psychischer Störung" den in Art. 5 Abs. 1 Satz 2 lit. e) EMRK formulierten Begriff "unsound mind" trifft, ob man also das Ziel einer Unterbringung nach Freiheitsstrafverbüßung im Einklang mit der EMRK, auf diesem Weg erreichen kann. Nach den in der Gesetzesbegründung zitierten Urteilen des EGMR soll dies zu bejahen sein: Der EGMR habe jedenfalls schon mehrfach "unsound mind" nicht mit "geisteskrank" gleichgesetzt.
Im Verfassungsblog wird jedenfalls schon über die Frage "Ist Hannibal Lecter psychisch gestört?" diskutiert.