Zusammenhang zwischen Religiosität muslimischer Jugendlicher und Gewalt - ist es doch ganz anders?
Gespeichert von Prof. Dr. Henning Ernst Müller am
Vor eineinhalb Jahren traf eine Studie des KFN (Baier, Pfeiffer u.a. 2010, hier als pdf) auf großes Medienecho: Spiegel Online titelte: ""Jung, muslimisch, brutal", in der Süddeutschen Zeitung referierte Roland Reuß unter dem Titel "Die Faust zum Gebet" diese Studie und hier im Beck-Blog fühlten sich Kommentatoren teilweise in ihren Vorurteilen bestätigt.
Die umstrittene Kernaussage der KFN-Studie (S. 118):
"Für islamische Jugendliche zeigt sich im Ausgangsmodell ein zu den christlichen und „anderen“ Jugendlichen entgegengesetzter Effekt: Mit stärkerer religiöser Bindung steigt die Gewaltbereitschaft tendenziell an."
Im soeben veröffentlichten Heft 6/11 der Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform kommen Autoren einer ganz ähnlich angelegten Studie zu einem anderen Ergebnis, nämlich dass sich eine signifikante gewaltreduzierende Bedeutung der Religiosiät nicht nur bei christlichen Jugendlichen (aus deutschen oder aus Migrantenfamilien stammend), sondern auch bei muslimischen Jugendlichen zeige (Brettfeld/Wetzels: "Religionszugehörigkeit, Religiosität und delinquentes Verhalten Jugendlicher" MschrKrim 2011, 409-425):
"Die Richtung der Effekte ist für alle drei Gruppen gleich. (...) Zusammenfassend zeigt sich, dass die Religiosität bei einheimischen Christen, christlichen Migranten wie auch jungen Muslimen signifikant das Ausmaß ihres delinquenten Handelns (....) reduziert" (S. 423 f.) Dies gilt, laut dieser Studie, ausdrücklich auch für "personale Gewalt".
Wie kommt es zu den auf den ersten Blick sehr widersprüchlichen Ergebnissen?
Schon in der KFN-Veröffentlichung gab es Hinweise, die am lauthals verkündeten gewaltsteigernden Effekt der Religiosität Zweifel aufkommen ließen: Der Effekt war ausdrücklich als "nicht signifikant" (S. 118) ausgewiesen. Dennoch wurde er sowohl von den Forschern als auch von der Presse in den Vordergrund gerückt - und dies schon (wie ich damals hier im Blog kritisierte) in Pressemitteilungen/Pressekonferenzen vor der Veröffentlichung der Studie.
Ein Grund für die widersprüchlichen Ergebnisse könnte zudem in der Komplexität der Verknüpfungen mit weiteren mit Gewalt korrelierenden Variablen liegen. Von solchen weiteren Variablen haben beide Studien einige erfasst, allerdings nicht ganz deckungsgleich. So spricht die KFN-Studie von den moderierenden Variablen Männlichkeitsvorstellungen, Gewaltmedienkonsum und Freundesgruppenkultur, die bei Muslimen und Christen inhaltlich unterschiedlich gefüllt sind. Die Studie von Brettfeld/Wetzels hingegen kontrolliert die Variablen Bildung und Geschlechtsrollenorientierung. Faktisch sind diese Variablen eben bei christlichen und muslimischen Jugendlichen verschieden verteilt, nur wenn man sie herausrechnet, zeigen sich die Effekte der "puren" Religion. Aber es ist eine Interpretationsfrage, ob ein solches Herausrechnen Sinn macht bei Variablen, die mit der Religion möglicherweise im Alltag sich gegenseitig verstärkend verknüpft sind. Brettfeld/Wetzels kommen zum Ergebnis, dass der gewaltreduzierende Effekt der Religion auf die verstärkte soziale Kontrolle in solchen Gemeinschaften zurückzuführen sei, bei den religiöseren muslimischen Jugendlichen zudem auf den geringeren Alkoholkonsum (S. 427).
Vorläufiges Fazit für mich: Jede Vereinfachung bei der Darstellung der Verbindung zwischen Gewaltverhalten und Religion - noch dazu wenn sie nicht signifikant ist - erscheint unangemessen.
Fragwürdig ist es, wenn nur Studien, die einen ("nicht signifikanten") Effekt in der einen Richtung anzeigen, in der Presse breit publiziert werden, Studien, die ein anderes Ergebnis aufzeigen, jedoch nur einem Fachpublikum bekannt werden.