Kammergericht (Pressemeldung): Zwangseinweisung eines 11jährigen Kindes zur Therapie seiner Geschlechtsorientierung? (Update 19.04.)
Gespeichert von Prof. Dr. Henning Ernst Müller am
Schenkt man dem Bericht der taz von heute Glauben (leider gibt es bislang kaum weitere Berichte dazu, der strafblog schöpft aus derselben Quelle, siehe jetzt mein Update unten), dann hat das Kammergericht Berlin eine Entscheidung des Jugendamtes bestätigt, mit der ein 11jähriges Kind in die kinder- und jugendpsychiatrische Abteilung der Charite eingewiesen werden soll. Es liege weder eine Suizidgefahr noch eine Fremdgefährung durch dieses Kind vor. Es werde aber vermutet, die Mutter habe dem Kind seine von der Norm abweichende Geschlechtsorientierung (das Kind ist als Junge zur Welt gekommen, fühlt sich aber als Mädchen) "induziert" (zum Hintergrund: früherer Bericht der taz).
Unabhängig davon, ob dieser Vorwurf gegen die Mutter stimmt oder überhaupt stimmen kann (die Experten streiten über die Frage, ob eine solche Induktion möglich ist), erscheint mir eine zwangsweise Unterbringung des Kindes zur Diagnose und evtl. Therapie seiner Geschlechtsorientierung (ob diese überhaupt als eine "Erkrankung" angesehen werden kann, ist höchst fraglich) wie eine Meldung aus grauer Vorzeit. Der Psychiater soll sich laut taz so geäußert haben:
In der Charité geht es darum, Alex sein „biologisches“ Geschlecht nahe zu bringen und „geschlechtsatypisches Verhalten“ zu „unterbinden“, erklärt Chefarzt Klaus Beier die Therapie.
Aber unabhängig von der Frage, ob hier eine schon im Kindesalter manifest werdende Transsexualität vorliegt oder nicht: Eine Freiheitsentziehung ist ein derart gravierender Eingriff für ein Kind, dass er nur als ultima ratio vorgesehen werden kann. Laut dem Bericht fehlt bislang ein unabhängiges psychiatrisches Gutachten. Zu einer ambulanten Untersuchung seien Mutter und Kind bereit.
Mutter und Tochter baten darum, psychiatrisch begutachtet zu werden. Doch diese Begutachtung lehnte das Kammergericht nun ab. Ein Gutachten sei nicht erforderlich, zitiert der Anwalt der Familie aus dem Beschluss. Die Ausführungen der Pflegerin seien nachvollziehbar, die angestrebte stationäre Diagnostik liege in deren Ermessen.
Kann das wirklich wahr sein?
Ausschnitt aus den Gründen der Leitentscheidung des BVerfG (Beschluss vom 14. 6. 2007 - 1 BvR 338/07).
Die Freiheit der Person ist ein so hohes Rechtgut, dass sie nur aus besonders gewichtigem Grund angetastet werden darf (vgl. BVerfGE 45, 187 [223]). Die Einschränkung dieser Freiheit ist daher stets der strengen Prüfung am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu unterziehen. Dies schließt allerdings nicht von vornherein einen staatlichen Eingriff aus, der ausschließlich den Zweck verfolgt, einen psychisch Kranken vor sich selbst in Schutz zu nehmen und ihn zu seinem eigenen Wohl in einer geschlossenen Einrichtung unterzubringen. Die Fürsorge der staatlichen Gemeinschaft schließt auch die Befugnis ein, den psychisch Kranken, der infolge seines Krankheitszustandes und der damit verbundenen fehlenden Einsichtsfähigkeit die Schwere seiner Erkrankung und die Notwendigkeit von Behandlungsmaßnahmen nicht zu beurteilen vermag oder trotz einer solchen Erkenntnis sich infolge der Krankheit nicht zu einer Behandlung entschließen kann, zwangsweise in einer geschlossenen Einrichtung unterzubringen, wenn sich dies als unumgänglich erweist, um eine drohende gewichtige gesundheitliche Schädigung von dem Kranken abzuwenden. Dies gilt jedoch nicht ausnahmslos, weil schon im Hinblick auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz bei weniger gewichtigen Fällen eine derart einschneidende Maßnahme unterbleiben muss (vgl. BVerfGE 58, 208 [224 ff.]).
Die deutlich als ultima ratio angeführten Legitimationen für eine zwangsweise Unterbringung liegen m.E. hier eindeutig nicht vor. Als milderes Mittel läge zumindest eine ambulante Diagnosestellung nahe.
Ich bin betont vorsichtig, da ich kaum glauben kann, dass diese Darstellung den Kern des Beschlusses vollständig wiedergibt (siehe jetzt unten mein update). Aber wenn aus dem Beschluss tatsächlich hervorgeht, dass das KG dem Jugendamt in dieser Frage ein nicht überprüfbares Ermessen einräumt, dann käme dies einer folgenschweren Rechtsverweigerung (Art. 104 Abs.2 GG: über die Zulässigkeit einer Freiheitsentziehung hat NUR der Richter zu entscheiden) gleich: Jugendamt und Gericht tun einem 11jährigen Kind Gewalt an, ohne die traumatischen und stigmatisierenden Folgen zu berücksichtigen, die aus einer zwangsweisen Unterbringung resultieren können.
Update (27.03.): Die Darstellung der taz hat sich nicht bestätigt, was den rechtlichen Hintergrund der Entscheidung angeht. Es geht derzeit nicht um eine Zwangstherapie/Zwangseinweisung/Unterbringung: Der rechtliche Hintergrund des Beschlusses des KG ist eine Entscheidung über die Gesundheitsfürsorge, die dem Jugendamt übertragen war. Jugendamt und Mutter des Kindes streiten über das weitere Vorgehen. Das Jugendamt strebt eine stationäre Diagnosestellung an. Daraufhin hat die Mutter begehrt, die Gesundheitsfürsorge an sie zurück zu übertragen, was das AG ablehnte, wogegen sich die jetzt vom KG zurückgewiesene Beschwerde der Mutter richtete. Gegen den Willen der Mutter dürfte eine stationäre Diagnose oder Therapie erst durchgeführt werden, wenn auch das Aufenthaltsbestimmungsrecht auf das Jugendamt übertragen ist - was das Jugendamt auch schon beantragt hat. Auch hierzu ist, falls das AG dem Jugendamt Recht gibt, noch eine KG-Entscheidung zu erwarten.
Der inhaltliche Hintergrund des Berichts trifft hingegen zu: Es geht um die Diagnose bzw. "Therapie" einer möglichen Transsexualität, was im Kindheits- und Jugendalter äußerst schwierige Fragestellungen aufwirft, wie eine solche Entwicklung sinnvoll begeleitet werden kann. Gegen den Willen des Kindes eine stationäre Diagnose/Therapie durchzuführen, erscheint mir höchst problematisch, ebenso aber andere irreversible Entscheidungen. Darüber streiten auch die medizinischen Experten.
Der Beschluss des KG, der Anlass der Pressemeldung der taz war, verhält sich nicht ausdrücklich zu der richtigen Vorgehensweise, sondern nur zur Frage, wem die Gesundheitsfürsorge zustehen soll. Allerdings lässt sich im Beschluss eine Bestätigung der Richtungswahl des Jugendamts herauslesen. Eine Zwangstherapie (wie sie im taz-bericht anklingt) wird aber vom KG nicht bestätigt oder genehmigt. Der Beschluss enthält keine Festlegung dahingehend, ob die Transsexualität induziert sei oder nicht, meint aber aus dem Verhalten der Mutter eine das Kindeswohl gefährdende Festlegung erkennen zu können, die die Belassung der Gesundheitsfürsorge beim Jugendamt rechtfertigt.
Update 29.03.:
Der Beschluss KG 19 UF 186/11 im Volltext.
Update 30.03.: Zur Frage des § 158 FamFG
Im Beschluss des KG wird die Bestellung eines Verfahrensbeistandsgem. § 158 FamFG für das betr. Kind abgelehnt. Ich halte diese verfahrensrechtliche Entscheidung für rechtlich problematisch.
Die Begründung des KG überzeugt nicht. Zunächst wird zur Begründung angeführt, die Interessen des Kindes in diesem Rechtsstreit würden hinreichend von den Eltern wahrgenommen werden. Diese Begründung widerspricht aber eklatant den weiteren Ausführungen im Beschluss: Denn wenn das KG meint, die Gesundheitsfürsorge nicht den Eltern bzw. der Mutter zurückübertragen zu können, da dann eine Kindeswohlgefährdung drohe, dann können in dem Rechtsstreit um eben diese Frage die Eltern/die Mutter eben nicht auch die Interessen des Kindes vertreten.
Ebenso verfehlt ist die Annahme des KG, die vom Jugendamt eingesetzte Ergänzungspflegerin mache einen Verfahrensbeistand für das Kind "erst recht" obsolet, da sie die Interessen des Kindes praktisch mitvertrete: Dieser Erst-Recht-Schluss ist ein klassischer Fehlschluss. Denn in dem Rechtsstreit geht es ja gerade darum, ob die (umstrittene) Einschätzung der Ergänzungspflegerin zur richtigen Ausübung der Gesundheitsfürsorge eine Rückgabe der Gesundheitsfürsorge veranlasst. Nun kann in einem Rechtsstreit nicht eine neutrale/unabhängige Interessenvertretung des betr. Kindes von einem oder von beiden Kontrahenten um die Gesundheitsfürsorge mit übernommen werden. Das sagt einem schon der gesunde Menschenverstand.
Im Ergebnis hat das Kind überhaupt keine unabhängige Interessenvertretung in dieser für sein Leben enorm wichtigen Frage. Der Senat hat hier die Bedeutung des rechtlichen Gehörs des betr. Kindes (vgl. dazu BVerfG NJW 2003, 3544) offenkundig nicht ernst genommen und sich über die Interessen des Kindes, die ja die Legitimation des gerichtlichen Tätigwerdens darstellen, einfach hinweggesetzt.
Update 04.04. :
Die taz hat am 03.04. eine Berichtigung zum ursprünglichen Artikel veröffentlicht.
Update 19.04.:
Heute hat die taz eine weitere Berichtigung veröffentlicht, die die frühere Berichtigung (vom 04.04.) ergänzt. Ich zitiere sie im vollen Wortlaut:
In der taz war am 6. 2. 2012 in einem Interview mit der Berliner Antidiskriminierungsbeauftragten Eren Ünsal unter der Überschrift "Kein Ergebnis vorgeben" sowie am 26. 3. 2012 unter der Überschrift "Gegen die Angst vor Abweichung" über den Fall eines transsexuellen Kindes zu lesen, ein Jugendamt wolle dieses "in der Charité mit umstrittenen Therapiemethoden quasi umerziehen lassen", dass hierbei "die Berliner Charité ein Therapieverfahren anwendet, das Fachleute als manipulative ,Umpolungstherapie' ablehnen", bzw. wird eine Aktivistin zum Behandlungsansatz der Charité mit den Worten zitiert: "Der Leiter der Sexualmedizin, Klaus Beier, ist ein orthodoxer Psychoanalytiker, der sich an Konversionstherapien orientiert, mit denen früher Homosexuelle ,geheilt' werden sollten."
In diesem Zusammenhang hieß es in der taz auch: "Nun ist das aber genau das Verfahren [Homosexuelle umzupolen; Anm. d. Red.], das Herr Beier vorschlägt." Die Berliner Charité und Klaus Beier als Leiter des dortigen Instituts für Sexualwissenschaft und Sexualmedizin erklären hierzu übereinstimmend, dass sie keines dieser Verfahren bzw. keine dieser Therapien anwenden. In dem taz-Interview vom 6. 2. 2012 und in einem unter der Überschrift "Viele erleben die Pubertät als Qual" am 28. 1. 2012 veröffentlichten Interview mit der Sexualmedizinerin und Psychoanalytikerin Hertha Richter-Appelt sowie in einem Artikel der taz vom 24. 3. 2012 unter der Überschrift "Alex zieht vor Gericht" heißt es ferner, Beier schreibe in seinen Empfehlungen für eine Therapie bzw. in dem Buch "Sexualmedizin", geschlechtskonformes Verhalten würde gelobt, das "biologische" Geschlecht nahegebracht und nichtkonformes bzw. geschlechtsatypisches Verhalten nicht beachtet bzw. (beiläufig) unterbunden.
Sofern sich hierdurch der Eindruck ergibt, er habe sich zu dem konkreten Fall des transsexuellen Kindes und unmittelbar gegenüber der taz auf diese Weise geäußert, ist dieser Eindruck unzutreffend. Den von der taz beschriebenen Fall kenne er nicht, erklärt Beier.
Gleichwohl war er einer von drei Verfassern des Buchs "Sexualmedizin. Grundlagen und Praxis", das zuletzt im Jahre 2005 in 2. Auflage veröffentlicht wurde. In einem namentlich nicht gekennzeichneten Abschnitt zum therapeutischen Vorgehen bei Geschlechtsidentitätsstörung heißt es dort: "Folgende psychotherapeutische Settings haben sich als hilfreich erwiesen […]: […] geschlechtskonforme Verhaltensangebote […] und adäquate Verhaltensweisen belohnt […]. Geschlechtsatypische Verhaltensweisen werden nicht beachtet bzw. - beiläufig - unterbunden (nicht jedoch sanktioniert)." Chefarzt Klaus Beier lässt dazu mitteilen, dass er diese Passage nicht selbst verfasst habe, sondern hierdurch lediglich die Position einer kanadischen Arbeitsgruppe wiedergegeben werde.
Leitete er noch am 12. 1. 2012 per E-Mail "einige Originalarbeiten zum Thema" von anderen Verfassern an die Autorin der taz weiter, ohne mitzuteilen, dass diese Aufsätze anscheinend nicht ausnahmslos seine eigene wissenschaftliche Auffassung wiedergeben, bezieht er sich nunmehr ausdrücklich nur noch auf eine Publikation im Deutschen Ärzteblatt aus dem Jahre 2008, in der das Vorgehen der Charité adäquat beschrieben werde.
Dagegen heißt es in einem anderen dieser insgesamt drei übersandten Fachaufsätze zur Behandlung von "Geschlechtsidentitätsstörungen bei Jungen" in Übersetzung: "Die spezifischen Ziele, die wir für Jungen haben, sind die Entwicklung eines positiven Verhältnisses zum Vater (oder einer Vaterfigur), positiver Beziehungen zu anderen Jungen, geschlechtstypischer Fähigkeiten und Verhaltensweisen, um sich in die Gruppe Gleichaltriger oder zumindest einen Teil von ihnen einzufügen und sich als Junge wohlzufühlen. […] Die Behandlung ist abgeschlossen, wenn der Junge regelmäßig die Gegenwart gleichgeschlechtlicher Freunde sucht und sein geschlechtsübergreifendes Verhalten weitgehend normal erscheint."
In den Artikeln der taz vom 24. 3. 2012 und vom 26. 3. 2012 war außerdem zu lesen, das transsexuelle Kind dürfe nun nach einer Entscheidung des Kammergerichts in die Psychiatrie bzw. in die Berliner Charité (zwangs)eingewiesen werden. Zutreffend ist jedoch, dass das Kammergericht die Beschwerde der Kindesmutter gegen einen erstinstanzlichen Beschluss des Amtsgerichts Schöneberg, mit dem sie erfolglos die Rückübertragung der Gesundheitssorge für das Kind begehrte, zurückgewiesen hatte.
Abgesehen davon, dass es für eine solche Maßnahme an einer entsprechenden gerichtlichen Entscheidung fehlt, erklärt die Berliner Charité hierzu ergänzend, weder dürfe noch werde sie das Kind gegen dessen erklärten Willen oder gegen den erklärten Willen seiner Mutter aufnehmen. DIE REDAKTION
20.04. Die KOMMENTARFUNKTION ZU DIESEM BEITRAG IST AUSGESCHALTET
28.05.: Andrea Beyerlein in der Berliner Zeitung berichtet über den Fall - Link.
26.06.: In der Spiegel-Printausgabe von dieser Woche (Heft Nr.26/2012, S. 134-137) schreibt Kerstin Kullmann über den Fall.
Dezember 2012: aus "gewöhnlich gut unterichteten Kreisen" erfährt man, dass der Streit beigelegt sei und im Sinne der Mutter des Kindes entschieden worden sei.