Loveparade 2010, Gutachten aus England: Katastrophale Enge im Eingangsbereich vorhersehbar
Gespeichert von Prof. Dr. Henning Ernst Müller am
Viele Monate hat der von der Staatsanwaltschaft beauftragte Gutachter Keith Still gebraucht, um sein Gutachten zu erstatten. Nun soll es vorliegen und die SZ gibt bereits wieder, was Still darin (angeblich) aussagt: Die Rampe sei – was man leicht berechnen könne – für die erwartete Besucherzahl bei Weitem zu eng gewesen, zumal auch noch zusätzlich Hindernisse vorhanden gewesen seien. Daher sei eine Massenturbulenz in diesem Eingangsbereich vorhersehbar gewesen.
Zitat (SZ):
"Eine zentrale Frage der Staatsanwälte war: Gab es wenigstens die theoretische Möglichkeit, den Plan der Veranstalter umzusetzen, ohne dass Besucher der Duisburger Loveparade körperlichen oder seelischen Schaden genommen hätten? Stills Antwort lautet: nein, völlig undenkbar.
(...)
In verschiedenen Rechenmodellen weist er nach, dass die Veranstalter es aus seiner Sicht versäumt hätten, einfachste Kalkulationen durchzuführen. Zum Beispiel die erwarteten an- und abgehenden Besucherströme zu addieren. 21 Tote wegen ungenügender Grundrechenarten?
Die Katastrophe auf der Loveparade wurde oft als Massenpanik beschrieben, es klingt nach Mitschuld der Opfer. Für Panik fehlte ihnen aber der Platz, sie wurden erdrückt, weil sich auf der Rampe zum Gelände zu viele Menschen stauten. Still weist in seinem Gutachten nach, dass Veranstalter und Stadt durch einfache Kalkulationen hätten wissen müssen, dass die Rampe viel zu klein war für die erwarteten Besucher. Sie war zudem mit Zäunen verstellt und acht Meter schmaler als eigentlich geplant.
Das alles wäre vorhersehbar gewesen, das alles hätte nie genehmigt werden dürfen, schreibt Gutachter Still."
Nun kann man davon ausgehen, dass in dem Gutachten (angeblich 90 Seiten) noch mehr steht und auch die Verantwortlichkeiten Einzelner möglicherweise daraus herleitbar sind. Denn die oben zitierten Inhalte sind alles andere als neue Erkenntnisse. Dass sich die erwartete Besucherzahl, wenn man die stundenweise Planung anschaut und addiert, nie und nimmer die schmale Rampe hätte passieren können, war schon hier im Blog und anderswo kurze Zeit nach der Katastrophe deutlich beschrieben worden, siehe z.B. meinen allerersten Beitrag am Tag nach der Katstrophe:
"Aber wenn diese Angaben (von Prof. Schreckenberg) stimmen, dann hätte es 15 Stunden (!) gedauert, bis 300.000 Menschen auf dem Gelände gewesen wären, eine doch völlig unrealistische Vorstellung für eine solche Veranstaltung. Selbst die doppelte Menge von Zufluss hätte nahezu acht Stunden erfordert - und dabei sind nicht einmal die Besucher erwähnt, die inzwischen das Gelände wieder verlassen wollten. Im Übrigen erklärt dies, warum nach Angaben der Polizei das Gelände zu keinem Zeitpunkt überfüllt war. Wenn diese Angaben stimmen, dann kalkulierte dieses Konzept von vornherein ein mehrstündiges Warten im Gedränge vor oder im Tunnel ein - selbst wenn es "nur" 300.000 Menschen gewesen wären. Eine unzumutbare Situation, deren Folgen nun leider eingetreten sind.
Diese Folgen wurden schon vor einigen Tagen ziemlich genau vorausgesehen (link der westen) - und auch die mögliche Ursache, der zu enge einzige Zugang zum Gelände, wurde dort schon benannt.
Ob und wer strafrechtlich verantwortlich gemacht werden kann, ist Gegenstand der Ermittlungen, die sicherlich einige Zeit erfordern.
Aber unvorhersehbar war diese Katastrophe nicht. "
Etwas detaillierter mein Beitrag vom 28. Juli 2010. Ich war deshalb schon mit vielen anderen relativ frühzeitig der Ansicht, dass aufgrund dieser aus den „Planungen“ von Lopavent und der Berechnung eines Entfluchtungsgutachtens erkennbaren Daten, der Eingangsbereich viel zu knapp war, um die erwarteten Besucherzahlen dort durchzuschleusen. Da dies bereits vor der Veranstaltung auf der Hand lag, war weder das von Lopavent vorgelegte „Sicherheitskonzept“ tragfähig noch war eine Genehmigung der Veranstaltung auf Grundlage dieses Un-Sicherheitskonzepts rechtmäßig .
Da die Staatsanwaltschaft im vergangenen Jahr andeutete, es fehle für den Abschluss der Ermittlungen im Wesentlichen nur noch das Still-Gutachten, gehe ich davon aus, dass es nun recht bald zu einer Anklageerhebung kommt. Die pessimistische Einschätzung meines Kollegen Feltes aus Bochum, der eine Anklage für eher unwahrscheinlich hält, teile ich nicht. Nicht nur, wenn die Staatsanwaltschaft 99 % sicher ist, dass es zur Verurteilung kommt, sondern schon wenn sie eine Verurteilung für (überwiegend) wahrscheinlich hält, kann sie anklagen. Natürlich muss man bei einer so brisanten Angelegenheit vorsichtig sein mit Prognosen. Aber ich halte es doch für ziemlich wahrscheinlich, dass man einzelne Verantwortliche benennen kann, die den schlimmen Ausgang vorhersehen konnten und trotzdem nach dem Motto „Augen zu und durch“ gehandelt haben. Eine ähnliche Einschätzung trifft RA-Kollege Heckmann (facebook-Eintrag bei Stadtpolitik Duisbrg am 21.Mai 2013)
Kommt es nicht zur Anklage, wäre dies m. E. fatal, denn das würde zeigen, dass unser Strafrechtssystem nicht mit der komplexen arbeitsteiligen Verantwortung bei der Planung und Durchführung von Großveranstaltungen umgehen kann. Man kann tatsächlich darüber diskutieren, ob es angemessen ist, jede Fahrlässigkeit einzelner Mitarbeiter, die bei einer großen Unternehmung in Stresssituationen katastrophale Folgen auslösen können, strafrechtlich zu verfolgen. Es kann auch z.B. mit § 153 StPO operiert werden, wenn der Schuldanteil geringfügig ist, auch wenn schwere Folgen gegeben sind. Wenn es aber – wie es m. E. bei der Loveparade 2010 in Duisburg der Fall war – eklatantes und grob fahrlässiges Fehlverhalten von Sicherheitsverantwortlichen schon im Vorfeld gab, dann sollte auch das Strafrecht eingreifen können.
Ob Anklage gegen alle Beschuldigte, gegen die ermittelt wird, erhoben werden wird, wage ich allerdings nicht zu prognostizieren.
Ein neuer Artikel in der Rheinischen Post fasst den derzeitigen Ermittlungsstand zusammen.
Der Westen ergänzt mit einer Grafik, die die Verantwortlichkeiten darstellt.
Update (04.06.2013)
inzwischen sind noch einige Einzelheiten aus dem Gutachten bekannt geworden, die ich kurz darlegen und kommentieren möchte:
Still zeigt nicht nur, dass die geplante maximale theoretische Einlass- und Auslasskapazität des Veranstaltungsdesigns völlig unzureichend für die erwarteten Besucher war, sondern auch, welche Schlangen/Verstopfungen sich dadurch praktisch vor den Eingängen und auf dem Gelände bilden mussten, wenn die vorhergesagte Anzahl von Besuchern kam bzw. ging.
Diese theoretische Berechnung auf Grundlage des vom Veranstalter vorhergesehenen Zu- bzw. Abgangs kann natürlich nur dann als wesentliche Ursache des tatsächlichen Geschehens angesehen werden, wenn Zu- und Abgang am Veranstaltungstag auch im Wesentlichen der Vorhersage entsprach. Die entsprechende Frage der Staatsanwaltschaft beantwortet Still mit „Ja“ – die vorhergesagten Zeiten maximalen Zustroms seien ja einerseits vom Veranstaltungsablauf diktiert gewesen, andererseits von den Kapazitäten des ÖPNV. Die erwarteten Zugangs- und Ausgangszahlen seien daher tatsächlich in etwa so eingetreten wie in der Planung.
Ich denke an diesem Punkt hätte sich der Sachverständige noch mehr Mühe geben sollen. Selbst wenn in etwa die geplante Besucherzahl nach Duisburg gekommen ist, muss jedenfalls die Zahl derjenigen, die das Gelände am Nachmittag verlassen wollten, wesentlich geringer gewesen sein als in der Planung vorgesehen, weil ein Großteil der Besucher ja (noch) in der Eingangsverstopfung feststeckte bzw. erst viel später aufs Gelände kam.
Jedoch taugt diese Abweichung m.E. nicht unbedingt zur Verteidigung der Verantwortlichen.
Still hat zu Recht dargelegt, dass selbst bei optimaler Nutzung der Eingänge ein störungsfreier Ablauf bei den erwarteten Besucherzahlen nicht gewährleistet war – also aus Ex-Ante-Sicht der Planer und Genehmiger. Wenn nun selbst bei schon geringeren Besucherzahlen eine Störung eintrat, ist das kein Argument gegen die Schlüssigkeit des Still-Gutachtens – es zeigt sich nur, dass der Einlass tatsächlich weit entfernt war vom optimalen Besucher-„Fluss“. Allerdings genügt eine allg. Vorhersehbarkeit von (lebensgefährlichen) Störungen in Form von Massenturbulenzen noch nicht zur objektiven Zurechnung des konkret eingetretenen Ereignisses. Darauf zielen insbesondere die Zusatzfragen der Staatsanwaltschaft, die diese im Februar 2012 dem Gutachter zukommen ließ. Hier sind auch Fragen zu einigen Fakten als mögliche (Neben-)Ursachen gestellt worden.
Ein Lautsprechersystem sei zwar wichtig und nützlich, aber es könne nicht das Problem des „Overcrowding“ als Hauptursache mildern. Nachdem das Eingangssystem nicht mehr funktioniert habe, habe man auch mit Lautsprecheransagen nichts mehr retten können.
Die Floats seien zu nah an der Rampe gewesen und das Sicherheitskonzept insofern falsch: Eine „Mitnahme“ der Besucher durch die Floats sei unrealistisch. Pusher seien bei einer schon eingetretenen Verstopfung nicht effektiv.
Besucherverhalten wird von Still als (Mit-)Ursache ausgeschlossen: Sowohl das Benutzen der Treppe, der Masten und des Containers als auch das Überklettern anderer Besucher wertet Still als normale Reaktion auf die hohe Verdichtungssituation.
Auch der zum Ersatz eines Kanaldeckels dienende Heras-Bauzaun wird von Still eher zu den allg. Risiken gezählt,. Als unmittelbare Ursache sieht er den Bauzaun nicht an.
Die Frage, ob (und wann) die Katastrophe noch hätte abgewendet werden können, wird nicht klar beantwortet - auch hier verweist Still auf die grundsätzlich fehlerhafte Planung, die, als die Veranstaltung erst einmal lief, kaum mehr Korrekturen zuließ. Offenbar waren für den Fall des erkennbar werdenden Scheiterns des Eingangskonzepts gar keine Sicherheitsmaßnahmen vorgesehn, die das tragische Geschehen hätten verhindern können. Es sei lediglich möglich gewesen, die Besucher an anderen Stellen vom Gelände zu schicken als durch den zu engen Eingang.
Kommentar:
Das Still-Gutachten zeigt m.E. schlüssig, dass die entscheidende Ursache für die Loveparade-Katstrophe schon im Vorfeld gesetzt wurde. Es handelt sich nach diesem Gutachten nicht um eine unglückliche unvorhersehbare Ursachenkette, sondern um eine von Planern und Genehmigungsbehörden aus ihren eigenen Zahlenangaben plus dem Ein- und Ausgangsplan einfach zu errechnende Unmöglichkeit der gefährdungsfreien Durchführung der Loveparade an diesem Ort. Wann und wo genau dann Menschen zu Schaden kamen, ließ sich natürlich nicht schon aus den Planungen herauslesen. Aber dass im Eingangsbereich lebensgefährliche Massenturbulenzen eintreten würden, war nach diesem Gutachten nur eine Frage der Zeit. Eine solche Schlussfolgerung aus den Planungszahlen ist nicht nur dem Fußgängerströmungsexperten möglich, sondern – wie hier im Blog schon Ende Juli 2010 gezeigt – jedem, der einen Dreisatz berechnen kann.
Das Gutachten belastet damit zentral die für Planung, Sicherheit und Genehmigung Verantwortlichen von Lopavent und Stadt bzw. Sicherheitsbehörden, weniger die vor Ort unglücklich agierende Polizei am Tag des Geschehens.
Leider werden die Fragen zum tatsächlichen Geschehen am Veranstaltungstag von Still zum Teil etwas knapp, teilweise gar unbefriedigend beantwortet. Zum Teil hat er auch nicht die Expertise zur Beantwortung dieser Fragestellungen, etwa wenn er schreibt, er kenne nicht die Gründe für die Polizeiblockaden an den jeweiligen Stellen – insofern müsste die Staatsanwaltschaft also ergänzende Ermittlungen nachtragen.
Wer sich über die bisherigen Diskussionen informieren möchte, kann sie hier finden - unmittelbar darunter einige Links zu den wichtigsten Informationen im Netz.
Juli 2012 (68 Kommentare, ca. 6500 Abrufe)
Dezember 2011 (169 Kommentare, ca. 7700 Abrufe)
Juli 2011 (249 Kommentare, ca. 13000 Abrufe)
Mai 2011 (1100 Kommentare, ca. 12000 Abrufe)
Dezember 2010 (537 Kommentare, ca. 10000 Abrufe)
September 2010 (788 Kommentare, ca. 19000 Abrufe)
Juli 2010 (465 Kommentare, ca. 28000 Abrufe)
Ergänzend:
Link zur großen Dokumentationsseite im Netz:
Link zur Seite von Lothar Evers:
DocuNews Loveparade Duisburg 2010
Weitere Links:
Große Anfrage der FDP-Fraktion im Landtag NRW
Kurzgutachten von Keith Still (engl. Original)
Kurzgutachten von Keith Still (deutsch übersetzt)
Analyse von Dirk Helbing und Pratik Mukerji (engl. Original)
Multiperspektiven-Video von Jolie / Juli 2012 (youtube)
Interview (Januar 2013) mit Julius Reiter, dem Rechtsanwalt, der eine ganze Reihe von Opfern vertritt.