Neue Psychoaktive Substanzen = Arzneimittel? BGH legt Verfahren dem EuGH vor
Gespeichert von Dr. Jörn Patzak am
Die strafrechtliche Beurteilung beim Umgang mit Neuen Psychoaktiven Substanzen (NPS), auch Legal Highs genannt, ist seit Jahren unter den Juristen umstritten. Zuletzt entschied das OLG Nürnberg am 10.12.2012, dass solche Substanzen dem Arzneimittelgesetz (AMG) unterliegen (s. dazu hier). Andere Stimmen sagen, dass das Arzneimittelgesetz hier keine Anwendung finden dürfe, da es bei den NPS an einer therapeutischen Wirkung fehle. Mit Spannung wurde daher eine erste Entscheidung des BGH erwartet. Mit dieser Rechtsfrage ist dort u.a. der 3. Strafsenat befasst, der über die Revision eines Verkäufers von Kräutermischungen mit den Zusätzen JWH-210 und RCS-4, welcher in der ersten Instanz wegen Verstoßes gegen das AMG zu einer Freiheitsstrafe von 1 Jahr und 9 Monaten mit Bewährung verurteilt worden war, zu entscheiden hat. Doch der 3. Strafsenat schafft mit seinem heute veröffentlichten Beschluss vom 28.05.2013 keine Klarheit (3 StR 437/12 = BeckRS 2013, 10903), denn er legt das Verfahren dem EuGH zur Entscheidung vor. Die Vorlegungsfrage hat der 3. Senat wie folgt formuliert:
„Ist Art. 1 Nr. 2 Buchstabe b) der Richtlinie 2001/83/EG vom 6. November 2001 in der durch die Richtlinie 2004/27/EG vom 31. März 2004 geänderten Fassung dahin auszulegen, dass Stoffe oder Stoffzusammensetzungen im Sinne dieser Vorschrift, die die menschlichen physiologischen Funktionen lediglich beeinflussen - also nicht wiederherstellen oder korrigieren -, nur dann als Arzneimittel anzusehen sind, wenn sie einen therapeutischen Nutzen haben oder jedenfalls eine Beeinflussung der körperlichen Funktionen zum Positiven hin bewirken? Fallen mithin Stoffe oder Stoffzusammensetzungen, die allein wegen ihrer - einen Rauschzustand hervorrufenden - psychoaktiven Wirkungen konsumiert werden und dabei einen jedenfalls gesundheitsgefährdenden Effekt haben, nicht unter den Arzneimittelbegriff der Richtlinie?“
Hintergrund dieser Vorgehensweise ist, dass in § 2 AMG die Richtlinie 2001/83/EG in der Fassung der Richtlinie 2004/27/EG umgesetzt und der europäische Arzneimittelbegriff in das deutsche Arzneimittelrecht übernommen worden ist. Die Frage, ob NPS tatsächlich als sog. Funktionsarzneimittel nach § 2 Abs. 1 Nr. 2 AMG dem Arzneimittelgesetz unterfallen mit der Folge, dass das Inverkehrbringen strafbar ist, obliegt daher dem Gerichtshof der Europäischen Union, so der BGH.
Zum Meinungsstreit führt der Beschluss Folgendes aus:
„In Rechtsprechung und Literatur zu § 2 Absatz 1 Nr. 2 Buchstabe a) AMG ist umstritten, ob hinsichtlich des Merkmals "beeinflussen" ausreichend ist, dass Körperfunktionen durch die pharmakologische, immunologische oder metabolische Wirkung des eingenommenen Stoffes in irgendeiner - gegebenenfalls gesundheitsschädlichen - Weise beeinflusst werden, oder ob ein "Beeinflussen" nur vorliegt, wenn damit ein therapeutischer Nutzen oder jedenfalls eine positive Beeinflussung der physiologischen Funktionen im Sinne einer therapeutischen Zielrichtung erreicht wird.
Letztgenannte Auffassung wird von Teilen der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung sowie Teilen der verwaltungs- und strafrechtlichen Literatur vertreten (vgl. OVG Münster, Beschluss vom 23. April 2012 - 13 B 127/12, ZVR-online 11/2012 Rn. 25 ff.; VG Köln, Urteil vom 20. März 2012 - 7 K 3169/11, juris Rn. 168 ff.; OVG Magdeburg, Beschluss vom 5. Juni 2012 - 3 M 129/12, PharmR 2012, 298, 300; Rennert, NVwZ 2008, 1179, 1184; Müller, PharmR 2012, 137, 139; Voit, PharmR 2012, 241, 243 f.; zust. aus der strafrechtlichen Literatur Krumdiek, StRR 2011, 213, 215; Nobis, NStZ 2012, 422, 424 f.; Weidig, Blutalkohol 50/2013, 57, 63 ff.).
Diese Gerichte und Autoren argumentieren in erster Linie mit der Systematik der Norm: Die beiden erstgenannten Merkmale des § 2 Abs. 1 Nr. 2 Buchstabe a) AMG "wiederherstellen" und "korrigieren" betonten erkennbar den positiven Zweck der Anwendung des Arzneimittels; es sei nicht ersichtlich, dass die dritte Variante "beeinflussen" unter diesem Niveau bleiben solle. Bei einem anderem Verständnis seien zudem die "Wiederherstellung" oder "Korrektur" der physiologischen Funktionen als besonders ausgewiesene Ziele überflüssig, da die dritte Variante des "Beeinflussens" ohnehin alles umfassen würde (vgl. nur OVG Münster, Beschluss vom 23. April 2012 - 13 B 127/12, ZVR-online 11/2012 Rn. 25 ff.). Dieses Verständnis trage auch der Begriffsdefinition "nach der Funktion" Rechnung, denn die Funktion eines Arzneimittels liege gerade in der Bekämpfung von Krankheiten und unerwünschten körperlichen Zuständen und Befindlichkeiten, nicht aber darin, Gesundheitsgefahren auszulösen (Rennert, NVwZ 2008, 1179, 1184 f.). Darüber hinaus bedürfe der ansonsten uferlose Arzneimittelbegriff einer einschränkenden Auslegung (s. dazu auch BVerfG, Beschluss vom 16. März 2006 - 2 BvR 954/02, NJW 2006, 2684, 2685), die auf diesem Wege erreicht werden könne (Voit, PharmR 2012, 241, 244 mwN).
Andere Gerichte und Autoren sehen hingegen das Merkmal bei jeder nennenswerten Beeinflussung der physiologischen Funktionen als gegeben an, sei sie positiv im Sinne eines therapeutischen Nutzens oder negativ im Sinne einer schädlichen Einwirkung (aus verwaltungsrechtlicher Sicht: OVG Saarlouis, Urteil vom 3. Februar 2006 - 3 R 7/05, ZLR 2006, 173, 188; VG Potsdam, Beschluss vom 9. Juni 2008 - 3 L 115/08, PharmR 2009, 250, 251; Koyuncu in: Deutsch/Lippert, AMG, 3. Aufl., § 2 Rn. 18, 21; Müller in: Kügel/Müller/Hofmann, AMG, § 2 Rn. 91; Kloesel/Cyran, Arzneimittelrecht, 119. Erg.-Lief., § 2 Nr. 69 aE; Volkmer in: Körner/Patzak/Volkmer, BtMG, 7. Aufl., Vorbem. AMG Rn. 72; aus strafrechtlicher Sicht: OLG Nürnberg, Urteil vom 10. Dezember 2012 - 1 St OLG Ss 246/12, PharmR 2013, 94, 97; LG Limburg, Urteil vom 27. September 2012 - 5 KLs 3 Js 14210/11, PharmR 2013, 190, 203 f.; Diehm/Pütz, Kriminalistik 2009, 131, 135; Patzak/Volkmer, NStZ 2011, 498, 500). Maßgeblich sei auf die (pharmakologische) Wirkung des Stoffes abzustellen, die - abhängig von der verabreichten Dosis - zu einer positiven oder negativen Beeinflussung der Körperfunktionen führen könne (OVG Saarlouis, aaO). Für die Frage der Beeinflussung und damit die Einstufung als Funktionsarzneimittel sei entscheidend, ob es durch die Einnahme zu einer Veränderung komme, die außerhalb der normalen im menschlichen Körper ablaufenden Lebensvorgänge liege (Volkmer in: Körner/Patzak/Volkmer, aaO unter Verweis auf BVerwG, Urteil vom 25. Juli 2007 - 3 C 22.06, PharmR 2008, 73, 77). Dies sei auch der Fall, wenn Stoffe oder Zubereitungen zum Zwecke der Rauscherzeugung eingesetzt würden (Koyuncu, aaO, Rn. 18; Volkmer in: Körner/Patzak/Volkmer, aaO).“
Es bleibt also spannend bei der rechtlichen Beurteilung der NPS. Wegen der Eilbedürftigkeit bittet der 3. Strafsenat übrigens darum, über das Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 53 Abs. 3 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs der Europäischen Union mit Vorrang zu entscheiden.