Wie können sinkende Kriminalitätsraten erklärt werden?
Gespeichert von Prof. Dr. Henning Ernst Müller am
Vor ein paar Monaten schrieb ich von der langfristigen Kriminalitätsentwicklung in Deutschland: Sowohl Hell- als auch Dunkelfeldstudien zeigen, dass dem in der ersten Hälfte der 1990er Jahre gemessenen Höhepunkt ein langfristiger Abwärtstrend folgte.
In den USA, mit ihren insgesamt deutlich höheren Kriminalitätsraten ist eine entsprechende Entwicklung etwas früher einsetzend und noch viel deutlicher zu beobachten: Bis 1990 stiegen dort die Zahlen an, um danach, bis heute, gravierend zurückzugehen, etwa auf den Stand von 1960. Diese Trendwende ist so unübersehbar, dass sie inzwischen eine kriminologische Generaldebatte ausgelöst hat, worin die Ursachen dieser Trendwende liegen könnten. „The Marshall Project“, ein US-basiertes fachjournalistisches Magazin, das sich mit Kriminologie und Kriminaljustiz befasst, hat nun zehn der („nicht völlig verrückten“) kriminologischen Hypothesen zum Kriminalitätsrückgang zusammengestellt. Diese Hypothesen waren zuvor Gegenstand einer kriminologischen Fachkonferenz (Roundtable on Crime Trends im November 2014)
1. Der „Abtreibungsfilter“ bezeichnet die These, dass die Legalisierung der Abtreibung für eine durchschnittlich höhere Qualität der Erziehung gesorgt habe (weniger unerwünschte und daher schlecht behütete Kinder und Jugendliche).
2. Die Ritalin-These behauptet, die verstärkte Medikation von ADHS-betroffenen Kindern und Jugendlichen habe für den Rückgang der Kriminalität gesorgt.
3. Die Blei-These geht davon aus, die Verbreitung des Schadstoffs Blei (Farben / Kraftstoffe) habe zunächst durch langfristig verhaltenswirksame Schädigung für den Anstieg der Kriminalität gesorgt. Das sukzessive Verbot (insb. verbleiter Kraftstoffe) habe dann mit 15 bis 20 Jahren Verzögerung für die Verringerung der (Gewalt-)Kriminalität gesorgt. Dieser These bin ich in einem Beitrag nachgegangen, der in der Gedächtnisschrift für Michael Walter (2014) erschienen ist.
4. Demographie-These (Alterung der Baby-Boomer-Generation): Die kriminell aktivste Altersgruppe wächst aus der Kriminalität heraus bzw. die große Anzahl Älterer kontrolliert die Jugend besser.
5. Die Technik-These: Klimaanlagen, Internet, Online-Banking, Kartenzahlung, Video-Überwachung und elektronische Wegfahrsperren sorgen dafür, dass Kriminalität, zumindest auf der Straße, zu schwierig bzw. wenig gewinnträchtig geworden ist. Zugleich macht es die neue Unterhaltungstechnik Jugendlichen bequemer, sich zuhause zu vergnügen.
6. Der Zusammenbruch des Crack-Booms: Man ist sich einige, dass ein wesentlicher Anteil der Großstadtkriminalität mit dem Crack-Boom in den USA (1980er) zu tun hatte, der allerdings nur eine Generation anhielt. Nachdem dieser vorbei war, gingen damit zusammenhängende Straftaten drastisch zurück.
7. Wirtschaftsentwicklung und Obama: Der wirtschaftliche Aufschwung während er 1990er Jahre habe zunächst die Leute von der Straße geholt, bislang sei der Zusammenhang zwischen Inflation und Kriminalitätsrate zu wenig beachtet worden. Nach der Krise von 2008/2009 habe zudem die Hoffnung der Jugend in die Präsidentschaft Obamas einem erneuten Trend zu mehr Straftaten entgegengewirkt.
8. Die Einsperrungsrate hat sich in den USA von 1970 bis 1990 vervierfacht. Wenn auch nur ein Bruchteil der Gefangenen in der Freiheit Intensiv-Straftäter geworden wären, hätte man durch ihre Inhaftierung eine erhebliche Anzahl von Straftaten verhindert.
9. Veränderte Polizeitaktik: In amerikanischen Großstädten hat man seit Mitte der 1980er Jahre mit verschiedenen Reformen versucht, die polizeiliche Kriminalprävention zu verbessern (Null-Toleranz, vermehrte Streifentätigkeit, community policing); einige dieser Strategien könnten Erfolg gehabt haben.
10. Einwanderung und Gentrifizierung: Gerade die (zu einem großen Teil illegale) Einwanderung aus Zentralamerika habe dafür gesorgt, dass in vormals „aufgegebenen“ Stadtvierteln in den US-Städten sich wieder Aufstiegsoptimismus verbreitet habe. Die Gentrifizierung dieser Viertel habe dann für eine Unterdrückung der Kriminalität gesorgt.
Einige dieser Thesen können sicher auch das Verständnis der deutschen bzw. europäischen Kriminalitätsentwicklung verbessern. Andere Thesen könnten durch entsprechende Vergleiche widerlegt werden.