Loveparade 2010 - was wird aus dem Prozess?
Gespeichert von Prof. Dr. Henning Ernst Müller am
Was ich im letzten September befürchtete, scheint sich nun leider nach Presseberichten zu bestätigen:
Die Staatsanwaltschaft hat mit ihrer Strategie, die Polizeiketten aus der Erklärung des konkreten Geschehens bei der Loveparade 2010 herauszuhalten, das Gericht nicht überzeugen können. Die Eröffnung des Hauptverfahrens verzögert sich. Nichtjuristen müssen dazu wissen: Es kommt in der Praxis nicht häufig vor, dass im Zwischenverfahren, noch dazu nach so langen und intensiven Ermittlungen der Staatsanwaltschaft, ein Gericht erhebliche Probleme sieht, das Hauptverfahren zu eröffnen und erhebliche Rückfragen hat. Die Rheinische Post schrieb gestern von 75 Fragen zu 15 Themenkomplexen an den Sachverständigen Keith Still.
Unter anderem geht es darum:
"Der Panikforscher soll dem Gericht unter anderem darlegen, wie sich Planungsfehler im Vorfeld auf den konkreten Veranstaltungsablauf auswirkten."
Das ist der auch von mir schon monierte Zusammenhang, der offenbar dem Gericht noch fehlt: Um die Frage zu beantworten, ob und wie sich die fahrlässig pflichtwidrige Planung auf das konkrete Unglück auswirkte, muss z. B. klar sein, wie viele Menschen am Tag des Unglücks tatsächlich vor Ort waren, ob also die Grenzen des noch ungefährdeten Zugangs, die Still berechnet hat, wirklich ausgeschöpft bzw. überschritten wurden. Dass die geplanten (vorab geschätzten) Besucherzahlen das Nadelöhr nicht hätten passieren können, ist klar, aber das begründet nur eine Pflichtwidrigkeit, noch nicht (allein) die Kausalität für den konkreten Erfolg: Die vor Ort tatsächlich anwesenden Besucher müssen gerade durch die pflichtwidrige Planung in Gefahr geraten sein.
"Still soll zudem genau erklären, ob die Polizeikette, die den Zulauf aufs Gelände stoppen sollte, Auswirkungen auf den Unglückshergang hatte."
Exakt die Frage, die wir hier (hier im Beck-Blog schon seit September 2010!) gestellt haben. Wie ich letztes Jahr (am Ende meines Beitrags) schrieb: Es kann schlimme Folgen haben, die Polizeiketten herauszulassen aus der Erklärung des Unglücks. Denn diese gehören nach allem was wir wissen GANZ OFFENSICHTLICH zur Ursachenkette dazu.
Wenn die Staatsanwaltschaft (in der Pressekonferenz zur Anklageerhebung) äußerte:
"Andere Ereignisse am Veranstaltungstag sind strafrechtlich nicht relevant geworden. Insbesondere die polizeilichen Maßnahmen waren nach den Feststellungen eines international anerkannten Sachverständigen weder für sich genommen noch insgesamt ursächlich für den tragischen Ausgang der Loveparade."
... dann war diese Aussage bezüglich der Tatsachen erkennbar FALSCH. Sie entsprach nebenbei gesagt auch gar nicht der Aussage des Gutachtens Still.
Jeder, der hier mitgelesen hat, weiß, dass ich immer verfochten habe, dass ALLEN Verantwortlichen der Prozess gemacht werden sollte, den Planern, Genehmigern und Verantwortlichen der Polizei, weil ich alle drei Ebenen für ursächlich halte. Zumindest aber muss eine mit den sichtbaren Tatsachen kompatible Beschreibung der Ereignisse Grundlage der Anklage sein. Die völlige Herausnahme der Polizei aus der Anklage kann nun dazu führen, dass der ganze Prozess leidet. Die Strafkammer des LG Duisburg sieht dies offenbar genauso.
Weiter heißt es im Bericht der RP:
"Ein am Verfahren beteiligter Jurist sagte unserer Redaktion, dass das Still-Gutachten zu viele offene Flanken biete, die die Gegenseite ausnutzen würde - und es auch schon täte, indem sie immer neue Einwände gegen die Expertise einbrächte. "Es ist ein grundlegender Fehler der Staatsanwaltschaft, fast die gesamte Anklage auf ein Gutachten aufzubauen", sagte der Jurist. Dem Landgericht könne man deshalb aber keine Vorwürfe machen."
Das sehe ich genauso, hoffe aber nach wie vor, dass sich die Lücken schließen lassen und die Hauptverhandlung nur verschoben ist.
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Wer sich über die bisherigen Diskussionen informieren möchte, kann sie hier finden - unmittelbar darunter einige Links zu den wichtigsten Informationen im Netz.
August 2014: Zweifel am Gutachten (50 Kommentare, ca. 6000 Abrufe)
Februar 2014: Anklageerhebung (50 Kommentare, ca. 10000 Abrufe)
Mai 2013: Gutachten aus England (130 Kommentare, ca. 14000 Abrufe)
Juli 2012: Ermittlungen dauern an (68 Kommentare, ca. 11000 Abrufe)
Dezember 2011: Kommt es 2012 zur Anklage? (169 Kommentare, ca. 28000 Abrufe)
Mai 2011: Neue Erkenntnisse? (1100 Kommentare, ca. 26000 Abrufe)
Dezember 2010: Fünf Monate danach (537 Kommentare, ca. 19000 Abrufe)
September 2010: Im Internet weitgehend aufgeklärt (788 Kommentare, ca. 33000 Abrufe)
Ergänzend:
Link zur großen Dokumentationsseite im Netz:
speziell: Illustrierter Zeitstrahl
Link zur Seite von Lothar Evers: DocuNews Loveparade Duisburg 2010
Link zur Prezi-Präsentation von Jolie van der Klis (engl.)
Weitere Links:
Große Anfrage der FDP-Fraktion im Landtag NRW
Kurzgutachten von Keith Still (engl. Original)
Kurzgutachten von Keith Still (deutsch übersetzt)
Analyse von Dirk Helbing und Pratik Mukerji (engl. Original)
Multiperspektiven-Video von Jolie / Juli 2012 (youtube)
Multiperspektiven-Video von Jolie / September 2014 (youtube)
Interview (Januar 2013) mit Julius Reiter, dem Rechtsanwalt, der eine ganze Reihe von Opfern vertritt.