Fall Frederike nach 35 Jahren: Rechtskraft oder Vergeltung?
Gespeichert von Prof. Dr. Henning Ernst Müller am
Die Rechtslage ist eindeutig: Die Wiederaufnahme eines Verfahrens zuungunsten eines Freigesprochenen ist nach § 362 StPO nur unter sehr engen Voraussetzungen möglich:
§ 362 StPO
Die Wiederaufnahme eines durch rechtskräftiges Urteil abgeschlossenen Verfahrens zuungunsten des Angeklagten ist zulässig,
1. wenn eine in der Hauptverhandlung zu seinen Gunsten als echt vorgebrachte Urkunde unecht oder verfälscht war;
2. wenn der Zeuge oder Sachverständige sich bei einem zugunsten des Angeklagten abgelegten Zeugnis oder abgegebenen Gutachten einer vorsätzlichen oder fahrlässigen Verletzung der Eidespflicht oder einer vorsätzlichen falschen uneidlichen Aussage schuldig gemacht hat;
3. wenn bei dem Urteil ein Richter oder Schöffe mitgewirkt hat, der sich in Beziehung auf die Sache einer strafbaren Verletzung seiner Amtspflichten schuldig gemacht hat;
4. wenn von dem Freigesprochenen vor Gericht oder außergerichtlich ein glaubwürdiges Geständnis der Straftat abgelegt wird.
Anders als bei einer Wiederaufnahme zugunsten eines Verurteilten gibt es nach einem rechtskräftigen Freispruch also keine Wiederaufnahme, wenn - was der häufigste Fall ist - neue Tatsachen bekannt werden.
In dem Fall, der seit einigen Monaten Aufsehen erregt, ist ein des Mordes Tatverdächtiger vor mehr als 30 Jahren freigesprochen worden – das LG Stade hatte seine Zweifel nicht überwinden können und die vorhandenen Indizien nicht für überzeugend gehalten.
Bericht der FAZ (Auszüge):
Frederike war 17 Jahre alt, als sie im November 1981 als Anhalterin in ein Auto stieg. Die Schülerin aus Hambühren wurde in einem Wald in der Nähe ihres Heimatortes bei Celle vergewaltigt, erstochen und entsetzlich zugerichtet liegengelassen. (...)
Experten des Landeskriminalamtes in Hannover hatten sich die alten Beweismittel mit neuen Untersuchungsmethoden noch einmal vorgenommen und DNA-Spuren gesichert, die einen 56 Jahre alten Mann stark belasten. Dieser Mann war bereits 1982 in dem Mordfall schuldig gesprochen worden. Allerdings hob der Bundesgerichtshof das Urteil auf, und der Verdächtige wurde 1983 vom Landgericht Stade aus Mangel an Beweisen freigesprochen. (...)
„Als ich aus dem Bericht des LKA erfahren habe, dass DNA gefunden wurde, habe ich geweint vor Erleichterung. Endlich hatte ich Gewissheit“, erinnert sich der Vater des Opfers. Umso größer war sein Entsetzen, als er erfuhr, dass die entdeckten Beweismittel aufgrund des Freispruchs nicht ausreichen, um einen neuen Prozess gegen den mutmaßlichen Mörder seiner Tochter aufzurollen.
Eine DNA-Prüfung hat also nun den Tatverdacht gegen den Freigesprochenen verstärkt. Ein neuer Prozess unter Berücksichtigung dieses neuen DNA-Indizes würde möglicherweise nicht mehr mit Freispruch enden. Jedoch: Einen neuen Prozess wird es nach Gesetzeslage nicht geben, es sei denn, der Freigesprochene legt ein Geständnis ab.
Verständlicherweise ist der Vater des Mordopfers, der seit der Tat den Mörder seiner Tochter sucht, empört. Er sammelt derzeit Unterschriften für eine Online-Petition bei change.org mit (auszugsweise) folgendem Text:
„Deshalb fordere ich Justizminister Heiko Maas auf, § 362 der Strafprozessordnung zu ergänzen. Es muss möglich sein, ein Verfahren wieder zu eröffnen, wenn neue, vom Bundesgerichtshof anerkannte wissenschaftliche Methoden einen freigesprochenen Täter überführen.
Mehrfach wurde mir gegenüber der vielbeschworene Begriff der „Rechtssicherheit” angebracht - wenn jemand in Deutschland freigesprochen ist, dann soll er auch die Sicherheit haben, dass er nicht erneut angeklagt werden kann. Es geht hier aber nur um die ganz wenigen Fälle eines falsch freigesprochenen Mörders.
In Österreich, in England, in Finnland, in Norwegen und in Schweden ist in solchwen Fällen eine neue Gerichtsverhandlung bei neuen Beweismitteln vorgesehen.
Nicht nur für Frederike, sondern für alle Betroffenen bitte ich Sie, Herr Maas, setzen Sie sich mit mir und weiteren Experten an einen Runden Tisch und diskutieren Sie mit uns die Änderung des § 362 der Strafprozessordnung.“
Ich habe schon viele Gespräche zu diesem Fall geführt. Nichtjuristen sind regelmäßig entsetzt über die harte Konsequenz der Rechtskraft. Tatsächlich war auch eine Mehrheit der Juristen unter meinen Gesprächspartnern der Ansicht, es sei unerträglich, dass möglicherweise ein Mörder frei ist, der mit neuen Methoden überführt werden könnte, aber dem man nicht mehr den Prozess machen kann. Dahinter steckt ein tiefes Empfinden, dass letztlich auch eine sehr lange zurück liegende Tat gesühnt werden muss - ein Vergeltungsbedürfnis , das auch dann noch existiert, wenn andere Strafgründe und -zwecke nicht greifen. Letztlich geht es um den Ur-Konflikt zwischen materieller Gerechtigkeit und Rechtssicherheit.
Auch die Rechtskraft ist aber ein hoch einzuschätzendes Prinzip: Sie sichert letztlich den weltweit in Strafrechtsordnungen verankerten Grundsatz „ne bis in idem“ (keine zwei Prozesse in derselben Sache). Allerdings gilt die Rechtskraft ohnehin nicht ganz schrankenlos, wie ja auch die Wiederaufnahmeregeln §§ 359, 362 StPO zeigen.
Im Jahr 2008 hatten zwei Bundesländer (NRW und HH) schon einen Gesetzentwurf (BT-Drs. 16/7957) mit demselben Ziel eingebracht. Eine neue Nr. 5 zu § 362 sollte lauten:
5. wenn auf der Grundlage neuer, wissenschaftlich anerkannter technischer Untersuchungsmethoden, die bei Erlass des Urteils, in dem die dem Urteil zu Grunde liegenden Feststellungen letztmalig geprüft werden konnten, nicht zur Verfügung standen, neue Tatsachen oder Beweismittel beigebracht werden, die allein oder in Verbindung mit den früher erhobenen Beweisen zur Überführung des Freigesprochenen geeignet sind.
Satz 1 Nr. 5 gilt nur in Fällen des vollendeten Mordes (§ 211 des Strafgesetzbuchs), Völkermordes (§ 6 Abs. 1 Nr. 1 des Völkerstrafgesetzbuchs), des Verbrechens gegen die Menschlichkeit (§ 7 Abs. 1 Nr. 1 des Völkerstrafgesetzbuchs) oder Kriegsverbrechens gegen eine Person (§ 8 Abs. 1 Nr. 1 des Völkerstrafgesetzbuchs) oder wegen der mit lebenslanger Freiheitsstrafe zu ahndenden vollendeten Anstiftung zu einer dieser Taten.
Dieser Gesetzentwurf wurde nicht verwirklicht.
Was meinen Sie? Sollte § 362 StPO (wenn ja, wie?) geändert werden, um solche Fälle zu erfassen? Welche (möglicherweise unerwünschten) Folgen könnte eine solche Änderung nach sich ziehen? Sollte dann doch das Prinzip Rechtskraft Vorrang haben?