Haben die Behörden im Fall Amri nun doch alles richtig gemacht? Gutachten des NRW-Sonderermittlers liegt vor
Gespeichert von Prof. Dr. Henning Ernst Müller am
Nach dem von dem Tunesier Anis Amri begangenen Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt stellte sich heraus, dass man Amri seitens der Sicherheitsbehörden (Verfassungsschutz, Polizei) schon fast ein Jahr "auf dem Schirm hatte" und als "Gefährder" einstufte. Schon Anfang 2016 gab es Hinweise, dass er in Deutschland einen Anschlag begehen wolle. Man hatte ihn bis September seitens der Berliner Staatsanwaltschaft auch strafprozessual überwacht, dann aber diese Überwachungsmaßnahmen aufgegeben, weil sich der Straftat-Verdacht und auch der Gefährderstatus nicht erhärtete. Dies war offenbar eine Fehleinschätzung, aber war es auch ein Fehler der einen oder anderen NRW-Behörde? Hätte man Amri vor dem Anschlag nicht in Abschiebe- oder Untersuchungshaft nehmen können (und sollen)? Hätte man ihn mit Meldeauflagen verstärkt überwachen können und damit den Anschlag verhindern bzw. erschweren können? All diese Fragen werden seither gestellt. Im derzeitigen Wahlkampf des einwohnerstärksten Bundeslandes NRW spielen solche Fragen natürlich eine erhebliche Rolle. Insbesondere geht es um den politisch verantwortlichen Landesinnenminister Jäger (SPD), der sich nach dem Anschlag dahingehend geäußert hatte, man sei mit Amri "bis an die Grenzen des Rechtsstaats" gegangen, habe ihn aber nun einmal aufgrund dieser Grenzen nicht inhaftieren können.
Ich wurde im Januar von der FDP-Fraktion im Landtag (NRW) mit einem Gutachten zu der Frage beauftragt, welche ausländerrechtlichen und strafprozessualen Möglichkeiten es im Fall Amri gegeben hat. Ich bin darin in einigen Punkten zu dem Ergebnis gelangt, dass es durchaus rechtliche Möglichkeiten gegeben hat, die jedoch nicht vollständig ausgeschöpft wurden. Da nicht ein einziges Mal ein Gericht mit der Frage befasst wurde, ob man Amri inhaftieren könne, kann man wohl kaum behaupten, die Grenzen des Rechtsstaats seien im Fall Amri auch nur berührt worden. Hier ein kurzes Interview aus dem Januar 2017: You Tube - Link
Der Gießener Strafrechtslehrer-Kollege Prof. Bernhard Kretschmer hat gestern sein Gutachten (105 Seiten) vorgelegt, mit dem er im Auftrag der Landesregierung NRW im Ergebnis Fehler der nordrheinwestfälischen Exekutive im Fall Amri verneint. Zu seinem Gutachten haben ihm die Akten der Strafverfahren und der ausländerrechtlichen Verfahren vorgelegen, so dass seine Datenbasis wesentlich umfangreicher ist als diejenige, die ich im Januar für mein Gutachten (25 Seiten) zur Verfügung hatte. Seine rechtlichen Bewertungen sind aber unabhängig davon in einigen Punkten übereinstimmend, in anderen abweichend. Teilweise mögen die Unterschiede mit dem Wortlaut des Gutachtenauftrags zusammenhängen. Ich wurde beauftragt, die rechtlichen Möglichkeiten im Fall Amri zu begutachten, ob Behörden "Fehler" gemacht haben, sollten erst andere auf Grundlage des Gutachtens beurteilen, während Kretschmer auch ausdrücklich eine Fehlerbeurteilung vornehmen sollte. Derzeit wird darüber gestritten, ob Herr Kretschmer tatsächlich so unabhängig ist, wie die Landesregierung behauptet, da er gerade über eine Position an der Uni Bielefeld verhandelt.
In der FAZ (Reiner Burger: "Irren ist behördlich", S.4) wird das neue Gutachten von Reiner Burger heute folgendermaßen kommentiert:
Kretschmers Gutachten passt nahtlos zur Verteidigungslinie der Landesregierung. Als Kraft Ende Januar mitteilte, dass sie den Rechtslehrer als Sonderbeauftragten eingesetzt habe, wies sie darauf hin, dass Amri im Gemeinsamen Terrorabwehrzentrum mit 40 Behörden von Bund und Ländern bis zuletzt falsch eingeschätzt worden sei. „Ich glaube, wir sollten niemanden einen persönlichen Vorwurf machen“, sagte Kraft damals. Ebenso hält es nun Kretschmer. Dazu passt der Hinweis des Innenministeriums, der am Sonntag einer breiten Öffentlichkeit bekanntgewordene LKA-Vermerk sei „nicht neu“ und enthalte „auch keine neuen Erkenntnisse“. Die Regierung habe den Sachverhalt in allen bisherigen Landtagssitzungen zum Fall Amri ausführlich dargelegt. NRW habe auf Grund der damaligen Ermittlungen ein Verfahren wegen Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Straftat beim Generalbundesanwalt angeregt. Der habe das Verfahren auf die Berliner Behörden übertragen. Die Observation Amris in Berlin habe den Verdacht nicht bestätigt. Zudem sei in vielen Besprechungen auf Landes- und Bundesebene mehrfach geprüft worden, ob die Voraussetzungen des Paragraphen 58a Aufenthaltsrecht im Fall Amri vorlagen. „Am Ende wurde eine Abschiebeanordnung verworfen, weil die Voraussetzungen nicht erfüllt waren. Anis Amri konnte nicht in Abschiebehaft genommen werden, weil Tunesien seine Identität nicht rechtzeitig geklärt hat.“
Schon im Januar vertrat dagegen der Regensburger Rechtslehrer Henning Ernst Müller in einem Gutachten im Auftrag der FDP-Landtagsfraktion unter anderem die Auffassung, dass die Behörden spätestens Ende Oktober, als Tunesien Amri nach langem Hin und Her als tunesischen Staatsbürger anerkannte, Abschiebehaft gegen den Gefährder hätten beantragen können.
Update 10. April 2017: Laut Bericht auf Zeitonline meint ein Vertreter der Ausländerbehörde Kleve, eine Abschiebehaft sei "aussichtslos" gewesen, u.a. wegen der vielen Identitäten Anis Amris. Bei dieser Bewertung wäre aber der Zeitablauf zu berücksichtigen. In meinem Gutachten ist dies ausschlaggebend. Was bis Mitte des Jahres 2016 noch stimmte, war in der zweiten Jahreshälfte 2016 eben nicht mehr aktuell. Ich hoffe, dass dieser Punkt im U-Ausschuss nicht unter den Tisch gefallen ist. Im Herbst 2016 jedenfalls war allen beteiligte Behörden die identität Amris klar. Ich hoffe, der Vertreter der Ausländerhbehörde wurde entsprechend befragt. Meine Vermutung, man habe Amri ab September einfach nicht mehr als Gefährdung ernst genommen und deswegen auch ausländerbehördlich "aus den Augen verloren", ist bislang jedenfalls noch von keinem widerlegt worden.
Disclaimer: Ich bin weder Mitglied der FDP noch habe ich sonstige Parteibindungen. Zum NRW-Wahlkampf habe ich auch keine sonstigen politischen Verbindungen. Ich lebe seit 1983 nicht mehr in NRW.