Netzwerkdurchsetzungsgesetz europarechtswidrig
Gespeichert von Prof. Dr. Thomas Hoeren am
Derzeit liegt der EU-Kommission der Referentenentwurf des BMJV für ein Gesetz mit dem wohlklingenden Namen „Netzwerkdurchsetzungsgesetz“ zur Notifizierung vor (NetzDG-E). Neben zahlreichen verfassungsrechtlichen, insbesondere grundrechtlichen Fragestellungen, die das Gesetzesvorhaben aufwirft, offenbart der Entwurf vor allem, dass eine substantielle Auseinandersetzung mit den europarechtlichen Vorgaben im Bereich der „Dienste der Informationsgesellschaft“ nicht stattgefunden hat und wesentliche Aussagen der ECRL (RL 2000/31/EG), etwa zum Herkunftslandprinzip, verkannt wurden. So läuft der Entwurf in der derzeitigen Fassung der Zielsetzung der ECRL, eine Fragmentierung des Binnenmarktes zu verhindern (vgl. Erwägungsgrund 59 ECRL), diametral entgegen.[1]
[1] Zum Text http://ec.europa.eu/growth/tools-databases/tris/de/index.cfm/search/?trisaction=search.detail&year=2017&num=127&mLang=de&CFID=2665602&CFTOKEN=e657eec98ea2b052-AE96FBFC-B2FB-F82B-D08C114CC7B379C1;%20https://draftable.com/compare/wanDzGZPwbnh
Erfasste Inhalte
Eine erste grundlegende ministeriale Fehlleistung enthält der Entwurf, indem er schon bei der Bestimmung des Anwendungsbereichs ein terminologisches Durcheinander schafft, das nur schwer zu durchdringen ist. Die für den Entwurf zentrale Definition zu den erfassten Inhalten in § 3 Abs. 1 NetzDG-E sieht hier eine zumindest sprachlich wenig geglückte Gleichstellung von Rechtswidrigkeit und Tatbestandsmäßigkeit vor („Rechtswidrige Inhalte sind Inhalte […], die die Tatbestand der §§ […] des Strafgesetzbuches erfüllen“). Diese ist geeignet, sich auch auf die europarechtlich gebotene Abwägung im Rahmen der Angemessenheit (dazu sogleich) auszuwirken. Mit Rücksicht auf die ähnliche, aber doch anders akzentuierte Definition der rechtswidrigen Tat in § 11 Abs. 1 Nr. 5 StGB erscheint die Begriffsbestimmung noch erklärbar. Die Entwurfsbegründung liefert auf Seite 20 dann den Hinweis, dass ausschließlich Handlungen erfasst sein sollen, die den Tatbestand erfüllen und rechtswidrig sind, ohne dass sie notwendigerweise auch schuldhaft sein müssen. Daher ist bisweilen davon auszugehen, dass auch Normen wie § 193 StGB (Wahrnehmung berechtigter Interessen), die u. a. der Meinungsfreiheit Raum verschaffen, bei der Beurteilung der Rechtswidrigkeit zu berücksichtigen wären. Perfekt ist die Begriffsverwirrung jedoch in dem Moment, in dem das Ministerium die Inhalte, die den Tatbestand der genannten Paragraphen erfüllen, nicht nur als „rechtswidrig“ (so in § 1 Abs. 3 NetzDG-E) bezeichnet, sondern – kompetenzrechtlich fragwürdig – gar als „strafbar“ (so in der Begründung zu § 1 Abs. 3 NetzDG-E, S. 20). Angesichts der an anderen Stellen zu findenden Verweise auf „objektiv strafbare Inhalte“ (vgl. S. 1, 10, 14) und den „objektiven Tatbestand“ (S. 11, 18) fragt sich auch, ob mit dem Entwurf tatsächlich ein Verzicht auf das subjektive Vorsatz- oder Fahrlässigkeitselement verbunden sein soll (so Härting im CR-online.de Blog). Die Definition in § 3 Abs. 1 NetzDG-E allein schafft hier jedenfalls nicht die erforderliche Klarheit. Wiederholt wird in der Begründung stattdessen darauf hingewiesen, dass die Schuld der Nutzer bei der Tatbestandsverwirklichung keine zu prüfende Voraussetzung ist (S. 20, 28). Auch die Formulierung zur grundlegenden Zielsetzung des Entwurfs, die Bekämpfung und Verfolgung von „Hasskriminalität und andere[n] strafbare[n] Inhalten“ ist angesichts des tatsächlichen Anknüpfungspunkts (rechtswidrige Inhalte) wenig konsequent.
Herkunftslandprinzip (Art. 3 ECRL, § 3 TMG)
Grundaussage
Grundlegendes Prinzip der sekundärrechtlichen Regelungen zu den „Diensten der Informationsgesellschaft“, zu denen die im Entwurf geregelten Tätigkeiten ganz unstreitig zählen, ist das sog. Herkunftslandprinzip. Dieses ist in Art. 3 ECRL niedergelegt und vom nationalen Gesetzgeber in § 3 TMG umgesetzt. Auf die lebhaft umstrittenen dogmatischen Fragen (Stichwort „IPR-Neutralität“?) soll hier nicht vertieft eingegangen werden (siehe dazu EuGH, Urt. v. 25.10.2011, Rs. C-509/09 – e-Date Advertising; BGH, Vorlagebeschl. v. 10.11.2009 – VI ZR 217/08, MMR 2010, 211). Nach Art. 3 Abs. 2 der ECRL jedenfalls dürfen die Mitgliedstaaten den freien Verkehr von Diensten der Informationsgesellschaft aus einem anderen Mitgliedstaat nicht aus Gründen einschränken, die in den koordinierten Bereich fallen (vgl. auch § 3 Abs. 2 TMG). Im Anschluss an die Rechtsprechung des EuGH lässt sich das Herkunftslandprinzip auf den Kern herunterbrechen, dass die Mitgliedstaaten sicherzustellen haben, dass die Dienstanbieter nach nationalem Recht keinen strengeren Anforderungen unterliegen, als sie das im Sitzmitgliedstaat des Anbieters geltende Sachrecht vorsieht. Soweit das durch die Anwendung des IPR berufene Recht Beschränkungen vorsieht, die das Recht, in dem der Dienstanbieter niedergelassen ist, nicht kennt, sind diese mit Rücksicht auf das Herkunftslandprinzip zu korrigieren. Das Sachrecht des Herkunftsstaates verdrängt in diesem Fall das durch die Anwendung des Kollisionsrecht bestimmte (dem Dienstanbieter ungünstigere) Sachrecht. Auf diese Weise wird sichergestellt, dass Anbieter im koordinierten Bereich lediglich den Anforderungen des Herkunftslandes entsprechen müssen. Das Herkunftslandprinzip zielt damit auf die Gewährleistung der Dienstleistungsfreiheit (Art. 56 AEUV) ab.
Problematisch ist das Verhältnis des NetzDG-E zum Herkunftslandprinzip nun vor allem deshalb, da durch den Entwurf wohl auch solche sozialen Netzwerke reguliert werden sollen, deren Anbieter in einem anderen Mitgliedstaat im Geltungsbereich der ECRL niedergelassen sind (zum Ort der Niederlassung vgl. Erwägungsgrund 19 ECRL). Bestätigt wird dies in der Entwurfsbegründung auf S. 29 ausschließlich im Zusammenhang mit § 5 NetzDG-E (Inländischer Zustellungsbevollmächtigter). Implizit liegt diese Annahme aber auch der Begründung zu Art. 3 Abs. 4 lit. b) Ziffer i) 1. Spiegelstrich ECRL auf Seite 14 des NetzDG-E zugrunde. Auch enthält der Entwurf keine den §§ 2a, 3 TMG vergleichbare Regelung. Da im Übrigen auch der Wortlaut der einzelnen Regelungen insoweit keinen Anlass zur Differenzierung gibt, ist davon auszugehen, dass auch Dienste erfasst sein sollen, die in anderen Mitgliedstaaten niedergelassen sind. Da diese derzeit keine vergleichbaren Regelungen vorsehen, würde der Vergleich der Rechtsstatute dazu führen, dass das deutsche Recht Beschränkungen vorsieht, die andere Mitgliedstaaten nicht kennen.
Der „koordinierte Bereich“
Geltung beansprucht das Herkunftslandprinzip lediglich für den sog. „koordinierten Bereich“. Dazu zählt auch die Festlegung der Anforderungen betreffend das Verhalten des Diensteanbieters, die Qualität oder Inhalt des Dienstes sowie die Verantwortlichkeit des Diensteanbieters (Art. 2 lit. h) Ziffer i) 1. Spiegelstrich ECRL). Die im NetzDG-E vorgesehenen Bestimmungen betreffen ganz offensichtlich diesen koordinierten Bereich, regeln sie mit den Vorschriften zur Berichtspflicht (§ 2), zum Beschwerdemanagementverfahren (§ 3), zum inländischen Zustellungsbevollmächtigten (§ 4) und schließlich auch den Bußgeldvorschriften (§ 5) doch gerade die Anforderungen an das Verhalten und die Verantwortlichkeit der Dienstanbieter. Das Ministerium zieht sich hier nichtsdestotrotz auf die vage Behauptung zurück, die vorgeschlagenen Betreiberpflichten „dürften“ vom koordinierten Bereich erfasst sein (S. 14). So ist es dem Gesetzgeber grundsätzlich verwehrt, auch Diensteanbieter mit einer Niederlassung in einem anderen Mitgliedstaat den genannten Erschwernissen zu unterwerfen, insbesondere Speicherpflichten im Inland oder einen Ansprechpartner im Inland vorzusehen.
Ausnahmen und Einschränkungen (Art. 3 Abs. 3 und 4 ECRL, § 3 Abs. 3, 4 und 5 TMG)
Dass der Referentenentwurf das Herkunftslandprinzip berührt, bestreitet das Ministerium auch gar nicht. Dort sieht man sich jedoch durch die – hier einzig in Betracht kommende – Ausnahmeregelung des Art. 3 Abs. 4 ECRL gerechtfertigt. Dieser erlaubt abweichende Maßnahmen unter anderem zum Schutz der öffentlichen Ordnung, insbesondere zur Verhütung, Ermittlung, Aufklärung und Verfolgung von Straftaten oder zum Jugendschutz. Voraussetzung für einen Ausnahmefall wäre eine „ernsthafte und schwerwiegende Gefahr einer Beeinträchtigung“ der genannten Schutzziele. Zudem müssen die ergriffenen Maßnahmen in einem „angemessenen Verhältnis“ zu dieser Gefahr stehen.
Bemerkenswert ist bereits, dass der Entwurf mit keinem Wort das Problem aufwirft, dass Ausnahmen nach dem Wortlaut nur Maßnahmen für einen „bestimmten Dienst der Informationsgesellschaft“ sein können. Die Kommission hat zu dieser Formulierung ausgeführt, dass keine allgemeinen Maßnahmen gegenüber einer bestimmten Kategorie von Diensten als Ganzes vorgesehen werden dürfen (vgl. COM(2003) 259 final sub. 2.1.2: „case-by-case basis against a specific […] service provided by a given operator“). Nimmt man die Kommission hier beim Wort, könnten abstrakt-generelle Rechtsnormen, die sich allgemein gegen die Dienstkategorie „soziale Netzwerke“ richten, nicht nach Abs. 4 gerechtfertigt werden (anders insoweit aber § 3 Abs. 5 TMG: „Einschränkungen des innerstaatlichen Rechts“, vgl. auch BGH, Urt. v. 30.3.2006 – I ZR 24/03, NJW 2006, 2630 und OLG Hamburg, Urt. v. 8.4.2009 – 5 U 13/08, MMR 2010 185 zur Einschränkung durch abstrakt-generelle Normen). Legt man die Auffassung der Kommission zugrunde, verkennt das Ministerium hier den Terminus „bestimmter Dienst der Informationsgesellschaft“, indem es davon ausgeht, dass mit der Anknüpfung an soziale Netzwerke lediglich „spezielle Dienste der Informationsgesellschaft“ (Begründung zu NetzDG-E, S. 14) und damit ein „bestimmte[r] Dienst“ im Sinne von Abs. 4 adressiert ist.
Darüber hinaus steht ein übergroßes Fragezeichen hinter der Frage, ob die geplanten Regelungen zur Verhinderung einer tatsächlich vorhandenen ernsthaften und schwerwiegenden Gefahr für die öffentliche Sicherheit dienen und dabei in einem angemessenen Verhältnis zum Schutzziel stehen. Allgemein anerkannt ist, dass nicht jede Verletzung der Schutzziele und insbesondere nicht jede Verletzung der nationalen Rechtsordnung die Anwendung der Ausnahmeklausel rechtfertigen. Bei dieser Wertung ist auch zu berücksichtigen, dass es erklärtes Ziel der ECRL ist, die Fragmentierung des Binnenmarktes zu verhindern (vgl. Erwägungsgrund 59 ECRL). So genügen mitnichten alle der in § 1 Abs. 3 NetzDG-E 24 genannten Straftatbestände den strengen Anforderungen, die eine Durchbrechung des Herkunftslandprinzip rechtfertigen könnten.
Im Zusammenhang mit der Verhältnismäßigkeit ließe sich für diese zwar noch anführen, dass der Entwurf eine Begrenzung auf „wirtschaftlich potente“ und für „gesellschaftlich relevante“ Anbieter beinhaltet. Zudem wurde mit der zweiten Entwurfsfassung die Speicherdauer (gelöschter) Inhalte zu Beweiszwecken auf 10 Wochen begrenzt (§ 3 Abs. 2 Nr. 4 NetzDG-E). Mit Rücksicht auf die pauschale Regelung zu den Reaktionszeiten (vgl. dazu die flexiblere Regelung in Art. 14 Abs. 1 lit. b) ECRL), die zu erwartenden praktischen Auswirkungen auf die Meinungsäußerungsfreiheit im Internet (Stichwort „Schere im Kopf“) sowie überobligatorische Löschungen aus Angst vor Bußgeldverfahren wird man die umfangreichen Verpflichtungen nicht als angemessen ansehen können. Die ernsthafte und schwerwiegende Gefahr geht hier eher vom Ministerium aus, dessen Entwurf einer Zuständigkeitsregelung in § 4 Abs. 5 NetzDG-E als Angriff auf die Rechtsstaatlichkeit anmutet (so Härting im CR-online.de Blog: „Gipfel rechtsstaatswidriger Zumutungen“). In jedem Fall scheint das Ministerium nicht die gebotene differenzierte Abwägung im Einzelfall vorgenommen zu haben, die das Unionsrecht mit diesem Ausnahmetatbestand gebietet.
Verstoß gegen Verfahrensregelungen
Noch offensichtlicher wird der Verstoß, wenn man berücksichtigt, dass der eine Ausnahme vorsehende Mitgliedstaat in jedem Fall den Sitzmitgliedstaat vorab aufzufordern hat, seinerseits Maßnahmen zu ergreifen. Erst wenn dieser der Aufforderung nicht Folge leistet oder die getroffenen Maßnahmen unzulänglich sind und zudem die Kommission und der Mitgliedstaat von den beabsichtigten Maßnahmen unterrichtet wurden, kann eine eigene Maßnahme erfolgen. Aus welchen Umständen das Ministerium einen Ausnahmefall nach Art. 4 Abs. 5 ECRL („dringlicher Fall“) konstruieren will, wird nicht einmal im Ansatz deutlich. Die Begründung enthält hier nur die pauschalierende Behauptung, dass ein „sofortiges Handeln […] zur effektiven Bekämpfung von Hasskriminalität und weiterer objektiv strafbarer Handlungen im Internet dringend geboten [ist]“ und bleibt dabei – nicht ohne Grund – jeglichen Nachweis schuldig, dass tatsächlich ein dringender Fall vorliegt, der ein sofortiges Handeln unentbehrlich macht.