Das BVerwG zur „schmerzlosen Selbsttötung“ – salomonische Lösung oder misslungene richterliche Rechtsfortbildung?
Gespeichert von Dr. Michaela Hermes, LL.M. am
Nun ist sie da: Die Urteilsbegründung (BverwG vom 02.03.2017 - 3 C 19.15). Mit Spannung erwartet. Bereits die Pressemitteilung vom 02.03.2017 - dazu der Beitrag vom 04.03.2017 - wurde viel diskutiert.
Die Ehefrau des Klägers hatte sich mit der Unterstützung einer Sterbehilfeorganisation in der Schweiz selbst getötet. Vom Hals abwärts gelähmt und künstlich beatmet war für sie das Leben nach einem Unfall unerträglich geworden. Beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) hatte sie die Erlaubnis zum Erwerb von 15 g Natrium-Pentobarbital beantragt. Dies wurde abgelehnt. Der klagende Witwer war der Auffassung:
Das Recht, selbstbestimmt über den Zeitpunkt und die Umstände des eigenen Todes zu entscheiden, laufe leer, wenn dem Betroffenen verwehrt werde, auf eine möglichst risikolose und schmerzfreie Weise aus dem Leben zu scheiden.
Die Leipziger Richter entschieden, dass der „Einzelne zwar grundsätzlich nicht verlangen“ könne, „dass der Staat Rahmenbedingungen und Strukturen schafft, die die Selbsttötung ermöglichen oder erleichtern.“ Sie meinten jedoch:
Eine Verdichtung zu einer konkreten Schutzpflicht für die Selbstbestimmung kommt aber in Betracht, wenn sich ein schwer und unheilbar Kranker wegen seiner Erkrankung in einer extremen Notlage befindet, aus der es für ihn selbst keinen Ausweg gibt.“
Insbesondere am Lebensende und bei schwerer Krankheit sei der Einzelne auf „die Achtung und den Schutz seiner Autonomie angewiesen", entschied das BVerwG.
Selbstbestimmung des Betroffenen versus Schutzpflicht des Staates für das Leben
Unter Bezugnahme auf einen neuen Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 26.07.2016 – 1 BvL 8/15 äußerten die obersten Verwaltungsrichter einen gewichtigen Satz:
Die staatliche Gemeinschaft darf den hilflosen Menschen nicht einfach sich selbst überlassen.“
Doch ging es dem BVerfG um einen völlig anderen Begriff der „Hilflosigkeit“. Gegenstand des BVerfGs Beschlusses waren Zwangsbehandlungen eines betreuten Menschen. Unter bestimmten Voraussetzungen des § 1906 BGB darf ein mit gerichtlicher Genehmigung in einer geschlossenen Einrichtung (Psychiatrie, beschützende Station) betreuter Patient gezwungen werden sich behandeln zu lassen. Dies entgegen dem Willen des Betreuten, wenn er aufgrund seiner Erkrankung einwilligungsunfähig ist oder die Notwendigkeit einer Behandlung nicht erkennen konnte. Hier leitete das BVerfG aus der Schutzpflicht des Staates gegenüber den nicht einsichtsfähigen Betreuten die Notwendigkeit zur Behandlung als letztes Mittel ab. Es soll also dort Hilfe angeordnet werden, wo das Selbstbestimmungsrecht dies verbieten könnte. Schon wegen der Grundverschiedenheit der Fälle kann die Entscheidung des BVerfG kaum die Gründe des BVerwG tragen.
Das BVerwG ist der Auffassung, dem Selbstbestimmungsrecht des Betroffenen komme insbesondere bei einer „extremen Notlage“ ein besonderes Gewicht zu, hinter dem die staatliche Schutzpflicht für das Leben aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG zurücktrete.
Enumerativ das BVerwG:
Das ist der Fall, wenn - erstens- die schwere und unheilbare Erkrankung mit gravierenden körperlichen Leiden, insbesondere starken Schmerzen verbunden ist, die bei dem Betroffenen zu einem unerträglichen Leidensdruck führen und nicht ausreichend gelindert werden können…,- zweitens- der Betroffene entscheidungsfähig ist und sich frei und ernsthaft entschieden hat, sein Leben beenden zu wollen und ihm - drittens - eine andere zumutbare Möglichkeit zur Verwirklichung des Sterbewunsches nicht zur Verfügung steht.
Die Schutzpflicht des Staates, so sagten die Richter, könne hinter das Selbstbestimmungsrecht des Betroffenen sogar dann zurück treten, wenn sich der Betroffene nicht in einer "extremen Notlage" befinde. Den Abbruch lebenserhaltender und -verlängernder Maßnahmen könne er selbst dann verlangen, „wenn der Behandlungsabbruch darauf zielt, das Leben trotz vorhandener Lebensperspektive zu beenden.“
Doch nach deutschem Recht gilt: Eine ohne Einwilligung durchgeführte medizinische Behandlung stellt immer eine Körperverletzung dar. Das Recht des Patienten, eine Behandlung abzulehnen, ist ein Abwehrrecht. Anders bei der Ehefrau des Klägers. Sie wollte die Erlaubnis für ein Betäubungsmittel erhalten. Sie begehrte eine Leistung.
Dieser Widerspruch dürfte den Leipziger Richtern nicht entgangen sein. Denn sie argumentierten bei der grundrechtskonformen Auslegung des Betäubungsmittelgesetzes mit einer Finesse:
In einer extremen Notlage der dargelegten Art kann die Anwendung eines Betäubungsmittels zur Selbsttötung ausnahmsweise als therapeutischen Zwecken dienend angesehen werden; sie ist die einzige Möglichkeit, eine krankheitsbedingte, für den Betroffenen unerträgliche Leidenssituation zu beenden.
Auf den Punkt gebracht bedeutet dies, die staatlich unterstützte Selbsttötung wäre eine schutzwürdige Therapie.
Wie schon die Diskussion zu dem Blogbeitrag zur Pressemitteilung gezeigt hat, wird durch die Entscheidung des BVerwG die Diskussion um die Selbsttötung weiter angeheizt werden. Doch außer Verständnis für die schwierige Situation des BfArM und dem gutgemeinten Ratschlag Sachverständige hinzuzuziehen, geben die Richter der Behörde wenig mit auf den Weg, um eine Ausnahmesituation für den Einzelfall beurteilen zu können.
Sicher ist, dass Betroffene vermehrt klagen werden. Hier ist eine gesetzgeberische Klarstellung im BtMG notwendig. So hat dann auch Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe die Unterstützung des ehemaligen Verfassungsrichters Udo di Fabio angefragt. Er soll sein Ministerium und das BfArM in dieser Angelegenheit beraten, so die FAZ vom 24.05.2017.