Verschleppung der Homoehe-Gesetzentwürfe durch den Rechtsausschuss des Deutschen Bundestags ist verfassungswidrig – zum Verfahren der Bundestagsfraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vor dem BVerfG
Gespeichert von Prof. Dr. Hubertus Gersdorf am
Mit Antrag vom 17. Mai 2017 hat die Bundestagsfraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN beim BVerfG einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen den Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz anhängig gemacht hat. Die Entscheidung des BVerfG ist in den nächsten Tagen zu erwarten.
Hintergrund und Gegenstand des Verfahrens
Hintergrund des Verfahrens ist der Gesetzentwurf zur Öffnung der Zivilehe für gleichgeschlechtliche Paare („Ehe für alle“), den die Bundestagsfraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN am 10. Juni 2015 beim Bundestag eingebracht hat. Der federführend mit dem Gesetzentwurf betraute Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (Ausschuss) hat den Entwurf bis zum heutigen Tag nicht beraten, geschweige dem Bundestag eine Beschlussempfehlung gegeben. Der Gesetzentwurf wurde stattdessen 27mal von der Tagesordnung genommen. Inhaltsgleiche Gesetzentwürfe des Bundesrats vom 11. November 2015 sowie der Fraktion DIE LINKE vom 23. Oktober 2013 hat der Ausschuss ebenfalls dilatorisch behandelt.
Hiergegen wendet sich die Bundestagsfraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vor dem BVerfG mit dem Antrag, den Ausschuss zu verpflichten, ihren Gesetzentwurf sowie die Gesetzentwürfe des Bundesrats und der Fraktion Die LINKE auf seine Tagesordnung zu setzen und über sie so zeitnah Beschluss zu fassen, dass der 18. Deutsche Bundestag spätestens in seiner letzten planmäßigen Sitzung am 30. Juni 2017 über die Gesetzentwürfe Beschluss fassen kann.
Erfolgsaussicht des Verfahrens
Mit diesem Antrag wird die Bundestagsfraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN aller Voraussicht nach Erfolg haben, weil ein entsprechender Hauptsacheantrag offensichtlich begründet wäre.
Zulässigkeit des Antrags
Die Bundestagsfraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der Ausschuss sind taugliche Antragsteller bzw. Antragsgegner im Organstreit. Sie sind durch das Grundgesetz (s. Art. 38 Abs. 1 Satz 2, Art. 42 Abs. 1 Satz 1, Art. 76 Abs. 1, Abs. 3 Satz 6, Art. 77 Abs. 1 Satz 1 GG) und die Geschäftsordnung des Bundestags (insbes. §§ 54 ff., 75 ff. GOBT) mit eigenen Rechten ausgestattete Teile des Bundestags.
Die Bundestagsfraktion als Antragstellerin kann auch unproblematisch geltend machen, durch die Nicht-Beratung und Nicht-Beschlussfassung ihres Gesetzentwurfes durch den Ausschuss in ihren verfassungsrechtlichen Rechten aus Art. 76 Abs. 1, Art. Art. 38 Abs. 1 Satz 2 und Art. 77 Abs. 1 Satz 1 GG verletzt zu sein (§ 64 Abs. 1 BVerfGG). Im Hinblick auf die Gesetzentwürfe des Bundesrats und der Fraktion DIE LINKE ist sie ebenfalls antragsbefugt. Als Teile des Verfassungsorgans Deutscher Bundestags können Fraktionen im Wege der Prozessstandschaft die Verletzung von Rechten des Bundestags (hier: insbes. Art. 42 Abs. 1 Satz 1, Art. 77 Abs. 1 Satz 1 GG) geltend machen (vgl. BVerfGE 2, 143 (166 f.); BVerfG, NVwZ 2017, 137 (139 Rn. 92) – st. Rspr.). Zwar hat das BVerfG eine solche Prozessstandschaft bislang nur in Fällen anerkannt, in denen es um die Verteidigung von Rechten des Bundestags im Verhältnis zu anderen Verfassungsorganen wie z.B. der Bundesregierung ging (interorganschaftlicher Streit). Das Organstreitverfahren gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG i.V.m. §§ 63 ff. BVerfGG ist aber nach Wortlaut und Sinn und Zweck auch für intraorganschaftliche Verfahren zwischen verschiedenen Teilen desselben Verfassungsorgans zulässig.
Offensichtliche Begründetheit des Antrags
Der Antrag der Bundestagsfraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist auch begründet, weil ein entsprechender Hauptsacheantrag offensichtlich begründet wäre.
Gesetzesinitiative beinhaltet das Recht auf Beratung und Beschlussfassung durch den Bundestag
Das Gesetzesinitiativrecht gem. Art. 76 Abs. 1 GG beinhaltet das subjektive Recht des initiierenden Organs (hier: Bundestagsfraktion als Mitte des Bundestags, s. § 76 Abs. 1 GOBT) auf Beratung und Beschlussfassung durch den Bundestag (vgl. BVerfGE 1, 144 (153 f.); 112, 363 (366, Rn. 10 ff.) – std. Rspr.). Überdies folgt die Beschlussfassungspflicht des Bundestags aus Art. 77 Abs. 1 Satz 1 GG („Die Bundesgesetze werden vom Bundestage beschlossen“) und aus Art. 76 Abs. 3 Satz 6 GG, der den Bundestag bezogen auf Gesetzesvorlagen des Bundesrats ausdrücklich verpflichtet, über die Vorlagen in angemessener Frist zu beraten und Beschluss zu fassen hat. Art. 76 Abs. 3 Satz 6 GG gilt entsprechend für Gesetzesvorlagen des Bundesrats und der Mitte des Bundestags (Brosius-Gersdorf, in: Dreier (Hrsg.) GGK, Bd. II, 3. Aufl. 2015, Art. 76 Rn. 100).
Dieses Recht auf Beratung und Beschlussfassung durch den Bundestag ist verfassungsrechtlich außerdem durch Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG gesichert, wonach die Abgeordneten des Deutschen Bundestags Vertreter des ganzen Volkes sind. Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG setzt „die gleiche Mitwirkungsbefugnis aller Abgeordneten des Deutschen Bundestags voraus … und umfasst das Recht auf gleiche Teilhabe am Prozess der parlamentarischen Willensbildung“ (BVerfG, NVwZ 2015, 1751 (1752 Rn. 91)). Die Mitwirkungsbefugnis der Abgeordneten bezieht sich dabei „nicht nur auf die Beschlussfassung, sondern auch auf deren Recht zu beraten, also zu »verhandeln« iSv Art. 42 I 1 GG. Öffentliches Verhandeln von Argument und Gegenargument ist ein wesentliches Element des demokratischen Parlamentarismus. Gerade das im parlamentarischen Verfahren gewährleistete Maß an Öffentlichkeit der Auseinandersetzung und Entscheidungssuche eröffnet Möglichkeiten eines Ausgleichs widerstreitender Interessen, die bei einem weniger transparenten Vorgehen sich nicht so ergäben“ (BVerfG, NVwZ 2015, 1751 (1752 Rn. 92)). „Zu den aus dem Recht auf gleiche Teilhabe am Prozess der parlamentarischen Willensbildung abzuleitenden Befugnissen der Abgeordneten“ gehören u.a. das Recht, „parlamentarische Initiativen zu ergreifen“ (zuletzt BVerfG, NVwZ 2015, 1751 (1752 Rn. 92)).
Recht auf Beratung und Beschlussfassung durch den Bundestag „in angemessener Frist"
Diese Beratungs- und Beschlussfassungspflicht muss der Bundestag „in angemessener Frist“ erfüllen. Das GG regelt dies für Gesetzesvorlagen des Bundesrats ausdrücklich in Art. 76 Abs. 3 Satz 6 GG. Die Regelung gilt aber entsprechend für Gesetzesvorlagen der Bundesregierung und der Mitte des Bundestags (vgl. statt aller BVerfGE 1, 144 (153)). Die Angemessenheit des Zeitraums für die Beratung und Beschlussfassung bemisst sich nach den Umständen des Einzelfalls. Eine Vertagung der Beratung und Beschlussfassung einer Gesetzesvorlage auf unbestimmte Zeit verstößt aber gegen Art. 76 Abs. 3 Satz 6 GG (Brosius-Gersdorf, in: Dreier (Hrsg.) GGK, Bd. II, 3. Aufl. 2015, Art. 76 Rn. 98; Kersten, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), GG-Kommentar, Art. 76 (2011) Rn. 65)).
Bei Einbeziehung von Ausschüssen in das Gesetzgebungsverfahren: Recht auf Beratung und Beschlussfassung durch die Ausschüsse
Errichtet der Bundestag Ausschüsse und überträgt ihnen wie in §§ 54 ff. GOBT Aufgaben des Gesetzgebungsverfahrens (zur Zulässigkeit vgl. nur BVerfGE 44, 308 (318)), sind die Ausschüsse als Teile des Verfassungsorgans Bundestags an die dem Bundestag verfassungsrechtlich obliegenden (Beratungs- und Beschluss-)Pflichten gebunden. Sie müssen daher über Gesetzesvorlagen in angemessener Frist beraten und eine Beschlussempfehlung für das Plenum abgeben (§ 62 Abs. 1 Satz 2 GOBT). Dieser bindenden Rechtspflichten dürfen sich die Ausschüsse nicht entziehen (BVerfGE 1, 144 (154)). Sie dürfen nicht durch Verschleppen von Gesetzesvorlagen „die Beratung und Beschlußfassung durch das Plenum praktisch verhinder(n)“ (BVerfGE 1, 144 (154)). Ein „Begraben“ von Gesetzesvorlagen im Ausschuss ist verfassungswidrig (BVerfGE 1, 144 (154)).
Hieraus folgt, dass im Organstreit das Organ(-teil) passivlegitimiert ist, dem die betreffende Gesetzgebungsaufgabe obliegt. Kommt ein Ausschuss des Bundestags seiner Beratungs- und Beschlussempfehlungspflicht (s. § 62 Abs. 1 GOBT) nicht nach, ist ein Verfassungsorganstreitverfahren gegen ihn zu richten.
Fazit
Die 27fache Vertagung der Gesetzentwürfe zur Öffnung der Zivilehe für gleichgeschlechtliche Paare ("Ehe für alle") durch den Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz ist verfassungswidrig. Der Ausschuss hat seine Pflicht verletzt, die Gesetzentwürfe der Bundestagsaktionen und des Bundesrats in angemessener Frist zu beraten und dem Bundestag einen Beschluss zu empfehlen. Der Ausschuss hat damit nicht nur die Rechte der Antragstellerin im einstweiligen Anordnungsverfahren (Bundestagsfraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) aus Art. 76 Abs. 1, Art. 38 Abs. 1 Satz 2 und Art. 77 Abs. 1 Satz 1 GG verletzt, sondern auch gegen die Rechte des Bundestags verstoßen (s. insbesondere Art. 42 Abs. 1 Satz 1, Art. 77 Abs. 1 Satz 1 GG), welche die Antragstellerin im Wege der Prozessstandschaft geltend machen kann. An dem Erfolg des Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung kann daher kein Zweifel bestehen.