NSU-Prozess: Verteidigung greift Schlussplädoyer des Nebenklagevertreters an
Gespeichert von Prof. Dr. Henning Ernst Müller am
Gestern wurde die Nachricht verbreitet, im NSU-Prozess sei es zum "Eklat" gekommen. (Süddeutsche)
Zwei Verteidiger hatten den Schlussvortrag des Nebenklagevertreters unterbrochen und begehrten vom Vorsitzenden bzw. vom Gericht, das Plädoyer von RA Daimagüler zu rügen. Bei näherer Betrachtung ging es wohl darum, dass RA Daimagüler in seinem Schlussvortrag auf die aus seiner Sicht bzw. der Sicht der von ihm vertretenen Nebenkläger unzureichenden staatlichen Ermittlungen hinwies. Dabei erweiterte er den Blick und bezog sich auch auf frühere offenbar mit rechtsextremistischer Motivation begangene Anschläge, die nicht bzw. unzureichend aufgeklärt wurden (z.B. das Oktoberfestattentat von 1980 – 13 Tote oder den Brandanschlag auf ein von ausländischen Mitbürgern bewohntes Haus in Lübeck 1996 – 10 Tote). Natürlich haben diese früheren Ermittlungsverfahren keinen unmittelbaren Zusammenhang mit dem Fall "NSU" und den Beweiserhebungen im derzeit laufenden Prozess. Aber in den Zusammenhang dieses Verfahrens, der sich aus dem offenkundig politischen Motiv der NSU-Taten und der ebenfalls zumindest in einigen Punkten "bemerkenswerten" Ermittlungsumstände ergibt, gehört dies aus meiner Sicht sehr wohl.
Nach § 397 StPO haben die Nebenkläger/Nebenklagevertreter auch das Recht auf den Schlussvortrag. Aus den einschlägigen Kommentaren ergibt sich nichts, was den Schlussvortrag der Nebenklage gegenüber demjenigen etwa der Verteidigung inhaltlich einschränkt. Das Gesetz schweigt völlig zum Inhalt der Schlussvorträge.
Der BGH (BGH StV 1985, 355) hat sich in einer der wenigen Entscheidungen zum Schlussvortrag wie folgt geäußert und eine Verfahrensrüge für begründet erachtet:
„Zwar muss der Vorsitzende des Gerichts auch bei den Schlussausführungen und dem letzten Wort eines Angekl. darauf bedacht sein, dass dieser die ihm gewährte Redefreiheit nicht missbraucht, indem er etwa vom Gegenstand des Strafverfahrens abschweift, sich fortwährend wiederholt oder gar seine Redebefugnis zu verfahrensfremden Zwecken ausnutzt (…). Gerade beim letzten Wort ist dem Angekl. aber andererseits weitestgehende Verteidigungsfreiheit zu ermöglichen (BGHSt 9, 77, 79; Tröndle in DRiZ 1970, 213, 217); der Sinn der Schlussausführungen besteht gerade darin, dass der Angekl. das sagen kann, was er aus seiner Sicht für wichtig hält (Gollwitzer in LR, § 258 StPO Rdnr. 32). Das Gericht muss daher auch bereit sein, Ausführungen über solche Dinge anzuhören, auf die es die Beweisaufnahme gem. § 244 Abs. 2 StPO nicht zu erstrecken braucht. Vor allem muss einem Angekl. Gelegenheit gegeben werden, die Beweggründe seiner Tat darzulegen (BGH, Urt. v. 26.05.1955 – 4 StR 136/55). Das hat die StrK dem Angekl. hier nicht gestattet.“
Aus den Kommentierungen zu § 258 StPO ergeben sich unterschiedliche Einschätzungen, die aber jeweils betonen, dass es dem Vortragenden ziemlich frei stehe, wie er seinen Vortrag formal und inhaltlich gestaltet. So heißt es etwa im Münchener Kommentar zur StPO (MüKoStPO/Ciermiak/Niehaus, Rn.6 zu § 258):
„Was aus Sicht der Beteiligten zur Darlegung des eigenen Standpunkts geeignet und erforderlich ist, entscheidet allein der Beteiligte selbst. Er ist dabei nicht auf den Vortrag von Tatsachen und Rechtsansichten beschränkt, sondern darf darüber hinaus seine eigene Perspektive darstellen. Dem Gericht ist es nicht erlaubt, Ausführungen zu unterbinden oder zu monieren, weil es sie für irrelevant hält.“
Wie bei allen Rechten der Prozessbeteiligten darf auch das relativ freie Recht zum Schlussvortrag nicht missbraucht werden, hat also Grenzen, die etwa im Karlsruher Kommentar (KK/Ott Rn. 9 zu § 258 StPO) so beschrieben werden:
„Jedem Verfahrensbeteiligten wird ermöglicht, seine tatsächliche und rechtliche Auffassung abschließend und im Zusammenhang vortragen (vgl RGSt 11, 135, 137). Im Rahmen dessen bleibt es ihm weitgehend selbst überlassen, nur das vorzubringen, was er zur Durchsetzung seiner Interessen für erforderlich ansieht, und wie er das tut (zum Angeklagten vgl auch Rn 21). Die Grenze liegt da, wo der Gegenstand der HV verlassen wird (LR-Stuckenberg Rn 27, 50 f.), wo Fragen angesprochen werden, die nicht mehr zur Sache gehören (zur Reichweite vgl RGSt 41, 259, 261 f.) oder wo die Achtung vor Gericht, Gegner und anderen Verfahrensbeteiligten außer Acht gelassen wird.“
Nun könnte mit „Gegenstand der Hauptverhandlung“ eine recht enge, aber auch eine recht weite Grenze gesetzt sein. Immerhin heißt es zum Schlussvortrag der Nebenkläger im Weiteren an derselben Stelle:
„Dies betrifft auch den Nebenkläger. Er hat einen uneingeschränkten Anspruch auf rechtliches Gehör, was durch § 397 Abs 1 S 4 in allgemeiner Form klargestellt ist. Er kann daher auch zu Fragen, die die zu erwartende Rechtsfolge betreffen, Stellung nehmen und dem Gericht Anregungen geben, die dessen Aufklärungspflicht nach § 244 Abs 2 auslösen können (vgl Senge FS Rissing-van Saan 2011, 657, 667). Der Nebenkläger kann den Schlussvortrag auch dazu nutzen, die Folgen der Tat für das eigene Leben darzustellen (im Sinne des sog Victim Impact Statement, das das amerikanische Recht kennt).“
Zumindest mit dem letztgenannten Thema wird der enge Gegenstandsbereich der Hauptverhandlung überschritten. Und es entspricht auch der Intention der Opferbeteiligung im Strafverfahren, dass die Nebenkläger ihre eigene Sicht und ihr eigenes Empfinden zur Tat und auch zum Verfahren insgesamt uneingeschränkt darlegen (lassen) können. Bei Taten mit politischem Hintergrund gilt das umso mehr, denn es ist ja gerade das "Politische", was über den Einzelfall hinausreicht und eine gesamtgesellschaftliche Bedeutung hat bzw. haben kann.
Formal kann in Fällen des Rechtsmissbrauchs der Vorsitzende auf Grundlage seiner Sachleitungsbefugnis (§ 238 Abs.1 StPO) eingreifen (also den Vortrag unterbrechen um den Vortragenden zu ermahnen, in Extremfällen auch das Wort entziehen). Und zu einer solchen Aktivierung der Sachleitungsbefugnis wurde der Vorsitzende offenbar von Seiten einiger Verteidiger im NSU-Prozess aufgefordert und dann auch eine gerichtliche Entscheidung beantragt. Die Antragstellung ist der Verteidigung natürlich gestattet (es sei denn, sie dient selbst sachfremden Zwecken).
Den Beobachtern und Berichterstattern über diese Vorgänge erschien es wohl ungewöhnlich, dass in einem Verfahren Anwälte ins Schlusswort eines anderen fallen, aber das ist, zumal in politisch aufgeladenen Prozessen, gar nicht so selten. Bemerkenswert erscheint es aber vor allem, dass nicht der Vertreter, dessen Behörde bzw. Funktion mit den angeblich sachfremden Ausführungen angegriffen wird (nämlich die Staatsanwaltschaft), das Plädoyer unterbricht, sondern die Verteidigung. Was sollte etwa die Angeklagte Frau Zschäpe dagegen haben, dass Ermittlungsfehler kritisiert werden und dass auf staatliches Versagen in vergleichbaren früheren Fällen hingewiesen wird? Schließlich wird gerade ihr von diesen Behörden der schwerste Vorwurf gemacht. Es ist zudem gerade die Aufgabe des Vertreters der Nebenklage auf durch die Ermittlungen ausgelöste Empfindungen der Nebenkläger hinzuweisen, hier etwa der Eindruck, der Staat bzw. die Ermittlungsbehörden verhielten sich gerade bei rassistisch motivierten Delikten unzuverlässig, beschwichtigend oder gar verdeckend.
Abgesehen davon leuchtet auf den ersten Blick nicht ein, warum ausgerechnet Strafverteidiger einen Schlussvortrag mit dem Vorwurf „Sachfremdheit“ angreifen und damit ggf. dem Gericht eine Vorlage liefern, auch ihren eigenen Schlussvortrag (bzw. solche in künftigen Verfahren) zu beschränken. So soll RA Heer, einer der Verteidiger Zschäpes, als Argument für seine Unterbrechung geäußert haben:
>>„Anklage gegen die Anklagebehörde oder den Staat“ gehöre nicht ins Plädoyer.<< (Quelle: NSU-Watch)
Wäre dieser Einwand zutreffend, könnte dies der Verteidigung (und eigentlich allen Strafverteidigern) alsbald auf die Füße fallen: Die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft und Polizei nicht kritisieren zu dürfen, das wäre eine geradezu groteske Einschränkung des Schlussvortrags. Und überhaupt: Wenn das von Daimagüler Vorgetragene schon rechtsmissbräuchlich sein soll, dann würde damit die Grenze des Rechtsmissbrauchs empfindlich auch zulasten des Rechtsinstituts der Verteidigung verschoben werden.
Auch dass man hieraus eine Verfahrensrüge zimmern könnte für die Revision, liegt für mich nicht auf der Hand. Aber vielleicht können mir hier die Leser auf die Sprünge helfen.
Udo Vetter (law blog) sieht es ähnlich.