Ein Leser antwortet …
Gespeichert von Peter Winslow am
auf mein Geständnis, mich bei den meisten anderen Rechtsordnungen nicht auszukennen, mit der Meinung, dass ich mich, wenn ich schon kein Jurist bin, unter anderem »wenigstens für die rechtlichen Verhältnisse in den Ländern der Ausgangs- bzw. Zielsprache interessieren« und »über die sehr unterschiedlichen Konzepte von ›insolvency‹ in den verschiedenen englischsprachigen Rechtsordnungen [] informieren« solle. … Bei intellektuellen Bestrebungen muss, um es mit Worten von Karl Kraus auszudrücken, »alles so ausgehen, daß immer einer noch gescheiter ist als der andere« (F 387–388: 18).* Wenn ich den Leser richtig verstehe, soll ich der andere sein. Meine Unwissenheit kommt, so scheint der Leser zu sagen, bei dem genannten Geständnis zum Vorschein.
Dagegen bin ich vollkommen wehrlos. Ich habe weder Recht noch das Rechthaben studiert. Und mein Dasein ist tatsächlich durch eine geduldig angeeignete Unwissenheit – eine Art Nichtwissen – gekennzeichnet, die unter anderem bei Ausübung meiner beruflichen Tätigkeit zum Vorschein oder gar Tragen kommt. Die Vorsicht gebietet, dass man weiß, was man nicht weiß, dass man weiß, was man nicht wissen kann, und dass man weiß, was man nicht wissen möchte. Zum Beispiel weiß ich, dass ich mich bei den meisten – und somit auch bei den meisten englischsprachigen – Rechtsordnungen nicht auskenne, dass ich mich bei den meisten – auch englischsprachigen – Rechtsordnungen nicht auskennen kann und dass ich nicht wissen möchte, was einen dazu verleiten könnte, das Geständnis dieser Unmöglichkeit als Zeichen eines Mangels an Interesse oder Information zu nehmen, der sich als Anlass zur Belehrung gut anbietet.
Spaß bei Seite … Die Antwort dieses Lesers kennt man schon. Eine seltsame und bange Wahrheit der Übersetzungsbranche besteht in dem immer wiederkehrenden Verlangen, dass sich juristische Fachübersetzer und Fachübersetzerinnen bei sämtlichen Fragen sämtlicher Fachgebiete auszukennen hätten. Dieses Verlangen wird in aller Regel mit eigenen Sprachkenntnissen und Meinungen zu Nuancen begründet, die in einer Aufstellung von Verallgemeinerungen münden. Auch vom hiesigen Leser werden unter Vorwurf der Unwissenheit meinerseits nur allgemeine Unterscheidungen zwischen Konzepten aufgestellt, die zwar »in den verschiedenen englischsprachigen Rechtsordnungen« vorhanden seien, auf die aber nicht näher eingegangen und die nicht einmal nach den jeweiligen englischsprachigen Rechtsordnungen aufgeschlüsselt werden. … Ich weiß vielleicht nicht viel, aber ich weiß, wenn eine Meinung – schon allein aufgrund ihrer sonderbaren Art, immer wiederzukehren – nicht überzeugt.
An dieser seltsamen und bangen Wahrheit sind aber Übersetzungsdienstleister genauso schuld wie die Vertreter dieser nicht überzeugenden Meinung. … Schließlich ist die Schuld – so lautet eine Binsenwahrheit – immer gerecht zu verteilen.
Früher haben viele Übersetzungsdienstleister gemeint, alle Textarten übersetzen zu können. Auch wenn sie dies nie unqualifiziert behauptet haben, hat es vor ca. zehn Jahren (mindestens in New York) ein Experiment gegeben, bei dem man versucht hat, die Leere dieser Haltung zu entlarven, und zwar ungefähr so: Man ruft beim Übersetzungsdienstleister an und gibt vor, einen Text durch diesen übersetzen lassen zu wollen. Der Witz dabei: Es gibt die Textart nicht, es muss sie nicht geben können. Es muss aber möglichst fachlich klingen. Man fragt bspw. eine Übersetzung im Bereich der handelsrechtlich vorgeschriebenen Synergie nach BGB-Vorbild an und lässt üblicherweise die Zusicherung schön aus der Leitung tönen, dass der Übersetzungsdienstleister genau den für die Textart passenden Übersetzer hat, der regelmäßig zwischen fünf und zehn Jahren Berufserfahrung in dem entsprechenden Bereich hat. … Ab und an kommt auch die Bitte, dem Übersetzungsdienstleister den Text zur Ansicht zukommen zu lassen. Darauf, dass er etwa nach Sokal-Vorbild auf die Probe gestellt wird, kommt er nicht.
Um Klartext zu reden, bin ich zu einem gewissen Grad überzeugt, dass Übersetzungsdienstleiter aus einem mir nicht erschließbaren Respekt dem Beruf gegenüber, bei dem Professionalismus mit der Fähigkeit, alles zu können und somit – und der Sprung hat seinen Grund – alles zu wissen, verwechselt wird, für die heute noch von Kommentatoren vertretene und nicht überzeugende Meinung mit verantwortlich sind. … Von diesem Respekt, von diesem Fachrespekt, ist abzuraten, und zwar im selben Sinne, mit dem Karl Kraus nach dem Ersten Weltkrieg von der »Kulturlüge« abgeraten hat (F 519–520: 24). Man darf sich selbst nämlich nicht glauben machen wollen, dass in dem Umgang mit Übersetzungen auf der Auftraggeber- und der Auftragnehmerseite und aus einem Respekt dem Beruf gegenüber ein umfassenderes Wissen vorliegt, als tatsächlich der Fall ist oder sein kann.
Dies darf man nicht aus den Augen verlieren, denn es wäre sonst für alle Stakeholder der Übersetzungsbranche im gleichen Maße verheerend.
Endnote
* In der Kraus-Forschung werden Zitate aus der Zeitschrift Die Fackel, die Karl Kraus zwischen 1899 und 1936 herausgegeben und ab 1912/1913 fast allein geschrieben hat, so abgekürzt: F für Fackel, gefolgt von der/den Heft-Nummer/Heft-Nummern, einem Doppelpunkt und der/den Seitenzahl/Seitenzahlen. Das Zitat F 1: 1 ist also so zu verstehen: Fackel, Heft-Nummer 1, Seite 1. Die Fackel steht auch kostenlos online zur Verfügung: http://corpus1.aac.ac.at/fackel/.