Loveparade 2010 - Hauptverhandlung in Düsseldorf. Die Besetzungsrüge der Verteidigung
Gespeichert von Prof. Dr. Henning Ernst Müller am
Die Verteidigung im Loveparade-Strafverfahren hat gestern eine Besetzungsrüge eingelegt und begründet. Während einige diesen Antrag und insbesondere dessen mehrere Stunden in Anspruch nehmende Begründung als Zeichen des Beginns einer Verzögerungsstrategie der Verteidigung ansahen und schon deshalb inhaltlich nicht besonders ernst nahmen, lassen Andeutungen in der Presseberichterstattung darauf schließen worum es ging. Und das ist keineswegs so leicht zur Seite zu wischen.
Kern der Rüge ist § 210 Abs.3 StPO, eine Norm, die 1942 (!) in die Strafprozessordnung aufgenommen wurde und die es dem Beschwerdegericht ermöglicht („kann“), das Hauptverfahren vor einem anderen Gericht bzw. „einer anderen Kammer“ zu eröffnen als derjenigen, die das Verfahren zunächst nicht eröffnet hat.
Ich muss zugeben, dass mir die Problematik im April 2017, als der Eröffnungsbeschluss des OLG Düsseldorf erging, nicht sofort auffiel. Das OLG Düsseldorf hat ja nichts anderes getan als dem Gesetzeswortlaut nach eben „bei einer anderen Kammer“ zu eröffnen, nämlich der jetzt verhandelnden sechsten Kammer des LG Duisburg (die fünfte Kammer hatte die Eröffnung abgelehnt).
Jedoch stecken in diesem auf den ersten Blick gesetzeskonformen Beschluss gleich zwei nicht ganz unproblematische Entscheidungen des OLG-Senats, die deshalb nicht zu Unrecht von der Verteidigung aufgegriffen worden sind.
1. Die Regelung des § 210 Abs.3 StPO wird in der Wissenschaft von einigen als Verstoß gegen Art. 101 Abs.1 S. 2 GG angesehen. Ein Grund wie bei § 354 Abs.2 StPO (Zurückverweisung an eine andere Kammer nach erfolgreicher Revision) bestehe nämlich nicht, denn das Eröffnungsgericht sei regelmäßig eben nicht in der Sache als „befangen“ anzusehen, da mit der (Nicht-)Eröffnung nur eine vorläufige Einschätzung abgegeben werde. Zudem sei das Tatgericht nach der Eröffnung, anders als im Falle der Revision, auch nicht an die sachlich-rechtliche Auffassung des Beschwerdegerichts gebunden. Diese Auffassung wird mit beachtlichen Argumenten von Seier (StV 2000, 586) vertreten; ebenso von Sowada (S. 802) in seiner maßgebenden Habilitationsschrift zum gesetzlichen Richter im Strafverfahren. Wohl die Mehrheit des Schrifttums und auch die bisherige Rechtsprechung ist hingegen der Ansicht, man könne die Norm verfassungskonform auslegen, indem man für die Entscheidung des Beschwerdegerichts, vor einer anderen Kammer zu eröffnen, besondere Sachgründe verlangt; solche Sachgründe hat das OLG in seinem Beschluss auch angeführt.
Das BVerfG hat jedenfalls im Jahr 2000 eine Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen, die sich gegen § 210 Abs.3 StPO richtete und dabei auf eine frühere Entscheidung aus dem Jahr 1966 Bezug genommen, in der das BVerfG § 354 Abs.2 StPO für verfassungsgemäß angesehen hat. Auch der BGH und mehrere OLG-Entscheidungen bestätigen die Gültigkeit des § 210 Abs.3 StPO.
2. Eine zweite Frage ist die, ob das Beschwerdegericht, wie es das OLG Düsseldorf in seinem Beschluss getan hat, selbst die „andere Kammer“ bestimmen kann, vor der das Hauptverfahren stattzufinden hat. Nach sämtlichen Kommentaren zu § 354 Abs.2 StPO verweist das Revisionsgericht nur an eine „andere Kammer“, die Auswahl dieser anderen Kammer trifft der Geschäftsverteilungsplan des zuständigen Landgerichts, der eben für diese Fälle eine Auffangzuständigkeit zu regeln hat. Im Schrifttum wird dies auch bei § 210 Abs.3 StPO so gesehen. Schließlich ist der Wortlaut (Zurückverweisung an eine andere Kammer“) der gleiche und dafür, dass das Beschwerdegericht sich die Kammer aussuchen kann, spricht wenig angesichts des Art. 101 Abs.1 S. 2 GG.
Allerdings ist über diese Frage bereits einmal im Jahr 1970 vom BGH entschieden worden. Auch damals ging es um einen Fall der fahrlässigen Tötung (Skiabfahrt bei einer Bergbahn). Der BGH zur gerügten Kammerauswahl durch das Beschwerdegericht:
„Es trifft zu, dass die Strafsenate des Bundesgerichtshofs in den entsprechenden Fällen des § 354 Abs. 2 StPO - deren Regelung mit Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG vereinbar ist (vgl. für § 354 Abs. 2 StPO a.F.: BVerfGE 20, 336) - sich auf den Ausspruch beschränken, dass die Sache an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen wird. Dabei gehen sie davon aus, dass es Aufgabe der landgerichtlichen Geschäftsverteilung ist, im Einzelnen die für diese Zurückverweisungen zuständige Kammer zu bestimmen. Regelt die Geschäftsverteilung des Landgerichts diesen Fall jedoch nicht und würde das Revisionsgericht die Sache an eine bestimmt bezeichnete Strafkammer zurückverweisen, könnten unter dem Gesichtspunkt des gesetzlichen Richters - wie bei der Zurückverweisung an ein anderes Gericht (BVerfGE 20, 336, 346) - Bedenken nur erhoben werden, wenn die Auswahl dieser Kammer auf sachfremden Erwägungen, also auf Willkür beruht hätte. Das gilt entsprechend auch für die Anordnung gemäß § 210 Abs. 3 StPO, dass die Hauptverhandlung vor einer anderen Kammer des Gerichts stattzufinden hat. Die Tatsache, dass es sich insoweit bei § 354 Abs. 2 StPO um eine Muss-, bei § 210 Abs. 3 StPO aber um eine Kannvorschrift handelt, ist dabei ohne Bedeutung. Da hier die landgerichtliche Geschäftsverteilung keine Regelung darüber enthielt, welche Kammer in einem solchen Fall zuständig ist, war das Oberlandesgericht nicht gehindert, die Durchführung der Hauptverhandlung vor der 1. Strafkammer anzuordnen. Dass es hierbei willkürlich verfahren wäre, ist nicht ersichtlich und von dem Beschwerdeführer auch nicht behauptet worden.“ (BGH Urt. v. 13.11.1970, Az.: 1 StR 412/70 (bei Jurion))
Der BGH sieht also die Grenze zur Rechtswidrigkeit erst erreicht, wenn die Entscheidung des Beschwerdegerichts „willkürlich“ ist. Daraus erklärt sich, dass die Verteidigung versuchte, eine solche Willkür darzustellen (Quelle: RP).
Trotz dieser BGH-Entscheidung tendiere ich auch dazu, den Kritikern des § 210 Abs.3 StPO zuzustimmen und halte zumindest die Auswahl einer bestimmten Kammer durch das Beschwerdegericht für sehr bedenklich.
Interessant: Es besteht hier die Chance, einmal grundsätzliches zu § 210 Abs.3 StPO zu sagen, an einem Beispiel, in dem die Anwendung dieser problematischen Vorschrift wirklich etwas bedeutet. Meine (äußerst vorläufige) Einschätzung zum vorliegenden Verfahren ist, dass § 210 Abs.3 StPO als verfassungsgemäß bestätigt wird und auch die konkrete Auswahl der Kammer durch das Beschwerdegericht als rechtmäßig angesehen wird (ähnlich sieht es wohl Thomas Feltes in seinem Loveparade-Blog). Dazu wird man sich auf BGH und BVerfG berufen, die bislang offenbar keine durchgreifenden Bedenken gegen diese Norm und ihre Anwendung hatten.
Verfährt man so, dann wird sich der BGH möglicherweise in der Revision mit der Frage beschäftigen müssen (was übrigens wegen § 78 Abs.3 StGB die Verjährung nicht mehr betrifft).
Wie ist die Einschätzung der praxiserfahrenen Leser/innen dazu?
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Link zum Hauptartikel zum Beginn der Hauptverhandlung in der Sache Loveparade 2010