Beweislastumkehr bei der Altersfeststellung?
Gespeichert von Prof. Dr. Henning Ernst Müller am
Im vergangen Jahr hatte ich – anlässlich des Freiburger Mordfalls – schon einmal zusammengetragen, was empirisch und rechtlich zur Altersfeststellung im Zusammenhang mit dem Strafverfahren zu sagen ist, siehe Beck-Blog-Beitrag hier.
Es geht um die Fragen:
1. Kann das Alter eines jungen Menschen mit Sicherheit festgestellt werden?
2. Welche medizinethischen Grenzen sind bei der Altersfeststellung zu beachten?
3. Was ist zu tun, wenn sich das Alter nicht exakt feststellen lässt, also Zweifel verbleiben?
Nun führt ein neuer Fall – ein angeblich erst 15jähriger unbegleiteter minderjähriger Flüchtling (UMF) wird beschuldigt, seine 15jährige (Ex-)Freundin erstochen zu haben – zu einer erneuten Diskussion dieser Fragen.
Wenn nun von Politikern (zB Herrn Palmer von den Grünen) vorgeschlagen wird, man solle das Problem durch eine Beweislastumkehr lösen, dann scheint das sowohl die ethische als auch die empirische Problematik einer Lösung zuzuführen: Wer nicht beweisen kann, dass er ein bestimmtes Alter unterschreitet, der wird dann behandelt, als habe er das höhere Alter. Auch wenn er einer Altersfeststellung etwa durch Röntgen zustimmt, gingen dann verbleibende Zweifel zu seinen Lasten. Eine flächendeckende Prüfung würde – unter der Annahme, dass heutzutage in diesem Bereich geschummelt wird, um den Status als UMF zu erlangen – möglicherweise zu erheblichen Kosteneinsparungen führen, so wohl die Überlegung.
Aber hat das noch etwas mit dem Strafrechtsfall zu tun, der Anlass der Debatte war? Eher nicht, denn anders als im Zivilrecht und Teilen des Verwaltungsrechts kann die Beweislast im Strafrecht nicht einfach gesetzlich auf den Beschuldigten verschoben werden. Im Strafrecht hat der Staat dem Beschuldigten die tatsächlichen Voraussetzungen seiner Bestrafung nachzuweisen. Hier zählt eben nicht, ob der Beschuldigte/Angeklagte öffentlich-rechtlich als Erwachsener GILT, sondern, ob er tatsächlich Jugendlicher (14-17), Heranwachsender (18-20) oder Erwachsener (ab 21) IST. Für die jeweils nachteiligere Einstufung trägt der Staat die Beweislast, im Zweifel gilt der Grundsatz in dubio pro reo. Das gilt schon für die (eigentl. verfahrensrechtliche) Frage der Anklageerhebung vor dem Jugendgericht (§§ 33, 39 ff., 109 JGG), aber erst Recht für die materiellstrafrechtliche Frage der Anwendung des Jugendstrafrechts (§§ 1, 3, 105 JGG).
Das heißt, auch wenn künftig ein (aufgrund einer Beweislast-Entscheidung) als Erwachsener behandelter junger Mensch eine Straftat begeht bzw. deswegen verdächtigt wird, kann er und wird er einwenden, er sei in Wahrheit noch nicht 18 bzw. 21 Jahre alt. Und dann tritt, selbst wenn man angesichts eines erheblichen Tatvorwurfs die ethische Frage als nicht durchgreifend ansieht, die empirische Frage auf, die oben an erster Stelle genannt ist: Die medizinische Altersfeststellung ist bislang mit einer gewissen Unsicherheit behaftet, so dass mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht ein genaues Tatzeitalter, sondern nur ein Altersbereich (von ca. drei bis vier Jahren) benannt werden kann. Nur wenn dieser Bereich mit Sicherheit über dem Alter von 20 liegt (also ein Experte zB ermittelt, der junge Mensch sei mit Sicherheit zur Tatzeit schon zwischen 21 und 24 Jahren alt gewesen), kommt das Jugendstrafrecht nicht mehr in Betracht.
Alles Weitere in meinem früheren Artikel.
Warum nun ausgerechnet der Strafrechtsfall in Kandel diese Diskussion auslöst, ist mir unverständlich. Soweit ich weiß, behauptet niemand, der Tatverdächtige in Kandel sei im strafrechtlichen Sinne bereits erwachsen (also mind. bereits 21 Jahre alt). Und in solchen Fällen stellen auch die ethischen Bedenken keine unüberwindbaren Hürden auf, eine Altersfeststellung zu versuchen (siehe Freiburger Fall).
Update (20.02.2018):
Im Fall Kandel liegen nun ein Altersgutachten vor (vgl. Bericht der FAZ). Das wahrscheinlichste Alter sei danach 20 Jahre, das Mindestalter 17,5 Jahre. Da damit nicht bewiesen werden kann, das der Beschuldigte bereits volljährig ist, kommt nach diesem Gutachten für ihn materiell Jugendstrafrecht zur Anwendung.