Drei Leitsätze der juristischen Fachübersetzung
Gespeichert von Peter Winslow am
Am 23. Juni 1968 hat Giovanni Mardersteig, Meisterdrucker, Schriftgestalter und Typograph, anlässlich der Verleihung des Gutenberg-Preises der Stadt Mainz und der Gutenberg-Gesellschaft eine Rede gehalten, die er mit seiner Antwort auf die Frage, »wie sich ein Drucker zu einem ihm anvertrauten Buche verhalten soll«, wie folgt endet:
Als erstes diene dem Autor, suche die beste Lösung für die Wirkung seines Themas.
Als zweites diene dem Leser, mache ihm die Lektüre so angenehm und leicht wie möglich.
Als drittes gib dem Ganzen ein anziehendes Gewand, ohne zu eigenwillig zu sein.
Meines Erachtens gilt Entsprechendes für die Antwort auf die Frage, wie sich ein juristischer Fachübersetzer/eine juristische Fachübersetzerin zu einem ihm/ihr anvertrauten Übersetzungsauftrag verhalten soll:
Als erstes diene dem Verfasser/der Verfasserin des Ausgangstexts, suche in der Zielsprache die beste Entsprechung für die Wirkung seiner/ihrer Worte.
Unabhängig davon, ob der Kunde zugleich Verfasser(in) des Ausgangstexts ist, hat dieser Leitsatz zur Folge, dass dem Anliegen des Kunden erst dann gerecht, wenn bei der Übersetzung dem Ausgangstext Rechnung getragen wird: Der Kunde hat nämlich nichts davon, wenn die Übersetzung keine richtige und vollständige Wiedergabe des Ausgangstexts darstellt. Diese beiden Kriterien sind im Regelfall objektiv und sachlich zu ermitteln; sie sind zumindest zu einem bedeutenden Maße von persönlichen Meinungen und Wünschen unabhängig. Richtigkeit und Vollständigkeit könnten, müssen aber nicht notwendigerweise, mit dem persönlichen (oder gar parteiischen) Verständnis des Kunden übereinstimmen. Der Kunde ist nicht der Rattenfänger von Hameln, juristische Fachübersetzer und Fachübersetzerinnen nicht die Ratten und Kinder, die auf Anhieb nach seiner Pfeife tanzen.
Als zweites diene dem Leser/der Leserin, übersetze den Ausgangstext so sprachregisterkonform, wie der Ausgangstext dies zulässt.
Niemand will zum Beispiel einen Satz wie »the contract is automatically extended respectively by one year« als Übersetzung des Satzes »der Vertrag verlängert sich automatisch jeweils um ein Jahr« lesen müssen. Diese Art der Wortwörtlichkeit ist selten angebracht, weil kaum verständlich. Wenn sich eine Übersetzung so gut wie eine Ersti-Hausarbeit liest, so ist etwas schief gegangen. Eine etwaige Übersetzung wie »the agreement shall be automatically extended for successive one-year periods« ist im Regelfall einfach und gut.
Als drittes behalte die Formatierung des Ausgangstexts bei, wenn der Ausgangstext in elektronisch bearbeitbarer Form vorliegt, oder formatiere die Übersetzung sowohl in Anlehnung an die Formatierung des Ausgangstexts als auch in Übereinstimmung mit einem Inhouse-, Kunden-bzw. branchenüblichen Styleguide, wenn der Ausgangstext nicht in elektronisch bearbeitbarer Form vorliegt, behalte also das bereits vorhandene Gewand oder bastele ein neues aufgrund der erkennbaren Eigenschaften des alten, und zwar in Übereinstimmung mit anzuwendenden Inhouse-, Kunden- oder Branchen-Normen.
In der Regel ist es nicht Sache der juristischen Fachübersetzung, Arbeitsergebnisse anziehende Gewände zu geben. So formuliert hört es sich blöd an. Aber juristische Fachübersetzungen sollten so schön oder so hässlich sein wie der jeweilige Ausgangstext. Und die Schönheit dieses Texts ist Sache des Verfassers/der Verfasserin. … Eine Ausnahme bilden beglaubigte Übersetzungen, weil diese tatsächlich Arbeitsergebnisse von juristischen Fachübersetzern und Fachübersetzerinnen darstellen, die nicht mit dem Ausgangstext verwechselt werden dürfen. Diese Ausnahme darf man jedoch nicht »zu eigenwillig« gestalten.
Das heißt: Juristische Fachübersetzer und Fachübersetzerinnen haben zwar einen gewissen Spielraum bei der Gestaltung beglaubigter Übersetzungen, aber dieser beschränkt sich lediglich auf fünf Elemente: die Schriftart, die Textausrichtung, die Silbentrennungseinstellungen, den Zeilenabstand und den Satzspiegel. Eine professionelle, käuflich erworbene Schriftart sollte bei beglaubigten Übersetzungen zum Einsatz kommen. Um es etwas übertrieben auszudrücken, kann keine professionelle Schriftart mit Arial, Calibri oder Times New Roman, den am häufigsten von Anwälten und Anwältinnen verwendeten Schriftarten, verwechselt werden. Beglaubigte Übersetzungen sind ja für den Druck bestimmt. Es schadet nichts, wenn sie entsprechend behandelt werden. Weil das am häufigsten verwendete Textverarbeitungsprogramm Microsoft Word ist, sollte die Textausrichtung mit einigen Ausnahmen, die jeweils im Einzelfall zu ermitteln sind, linksbündig sein; das Justification-Engine bei Word lässt in vielen Fällen viel zu wünschen übrig. Die Silbentrennung sollte eingeschaltet werden. Idealerweise sollte es nicht mehr als zwei aufeinander folgende Trennstriche geben. In der Praxis wird dies selten eingehalten, auch weil dies oft nur mit unverhältnismäßig viel Aufwand möglich ist. Aber man kann nach dem Ideal streben; denn man möchte schließlich so nah wie möglich am Ideal scheitern. Der Zeilenabstand sollte in der Regel zwischen 120 % und 140 % der Schriftgröße betragen – nur zwei Beispiele: bei einer Schriftgröße von etwa 10 pt beträgt der Zeilenabstand 12 pt (=10 × 1,2) bzw. 14 pt (= 10 × 1,4). Bei DIN-A4-Blättern ist ein schöner Satzspiegel für viele (aber nicht für alle) anwaltliche Arbeitsergebnisse der Goldene Schnitt; dieser Satzspiegel ist nicht nur die Empfehlung des weltbekannten Typographen Robert Bringhurst (siehe The Elements of Typographic Style). Auch Giovanni Mardersteig, der eingangs genannten Meisterdrucker, hat diesen Satzspiegel für manche Drucksachen in DIN-A4-Format gewählt. Sein Satzspiegel war zwar für den Buchdruck mit gegenüberliegenden Seiten bestimmt, aber man kann den Goldenen Schnitt ziemlich einfach auf einem DIN-A4-Blatt zum Zweck anwaltlicher Arbeitsergebnisse einrichten. Bei einer Variante betragen die Seitenränder oben 2,5 cm, unten, 4,5 cm, links 3,5 cm und rechts 3,5 cm oder aber, wenn man gleichgroße Seitenränder haben möchte, 3,5 cm oben, unten, links und rechts. Bei einer anderen Variante betragen die Seitenränder oben 2,5 cm, unten 3,92 cm links 4,68 cm und rechts 4,68 cm.
Um zu rekapitulieren: Wie soll sich ein juristischer Fachübersetzer/eine juristische Fachübersetzerin zu einem ihm/ihr anvertrauten Übersetzungsauftrag verhalten?
Als erstes diene dem Verfasser/der Verfasserin des Ausgangstexts, suche in der Zielsprache die beste Entsprechung für die Wirkung seiner/ihrer Worte.
Als zweites diene dem Leser/der Leserin, übersetze den Ausgangstext so sprachregisterkonform, wie der Ausgangstext dies zulässt.
Als drittes behalte die Formatierung des Ausgangstexts bei, wenn der Ausgangstext in elektronisch bearbeitbarer Form vorliegt, oder formatiere die Übersetzung sowohl in Anlehnung an die Formatierung des Ausgangstexts als auch in Übereinstimmung mit einem Inhouse-, Kunden-bzw. branchenüblichen Styleguide, wenn der Ausgangstext nicht in elektronisch bearbeitbarer Form vorliegt, behalte also das bereits vorhandene Gewand oder bastele ein neues aufgrund der erkennbaren Eigenschaften des alten, und zwar in Übereinstimmung mit anzuwendenden Inhouse-, Kunden- oder Branchen-Normen.