Neue Runde im AGG-Verfahren geht an Nils Kratzer
Gespeichert von Prof. Dr. Markus Stoffels am
Ein Verfahren, das bald zehn Jahren währt – ein Kläger, dessen Name sogar eine EuGH-Entscheidung (EuGH 28.7.2016 – C-423/15, NZA 2016, 1014, hierzu Beck-Blog vom 1.8.2016) ziert. Der Sachverhalt ist allgemein bekannt: Herr Kratzer hatte sich 2009 bei der Wiesbadener R+V-Versicherung auf eine Trainee-Stelle beworben und war nicht genommen worden. Er sieht sich wegen seines Alters und seines Geschlechts benachteiligt. Die beklagte Versicherung hatte insbesondere den Einwand des Rechtsmissbrauchs erhoben. Nachdem der EuGH die grundsätzliche Berechtigung des Rechtsmissbrauchseinwands im Antidiskriminierungsrecht herausgestellt hatte, verwies das BAG (26.01.2017 - 8 AZR 848/13, BeckRS 2017, 112923, hierzu Beck-Blog vom 12.6.2017) den Rechtsstreit zurück an das LAG Hessen. Die Entscheidung des LAG Hessen (18.06.2018 - 7 Sa 851/17, BeckRS 2018, 22254) liegt nunmehr vor und beschert Herrn Kratzer einen Sieg auf ganzer Linie: Ihm wird eine Entschädigung von 14.000 Euro zugesprochen und es wird festgestellt, dass die R+V-Versicherung ihm alle materiellen Schäden aus seiner Nichteinstellung erstatten muss. Aus dem umfänglich begründeten Urteil interessieren vor allem die Ausführungen zum Rechtsmissbrauch. Hierzu steht in enger Anlehnung an die Rechtsprechung des BAG zu lesen:
„Das Entschädigungs- und Schadensersatzverlangen des Klägers ist auch nicht dem Einwand des Rechtsmissbrauchs im Sinne des § 242 BGB ausgesetzt, mit der Folge dass diese geltend gemachten Ansprüche nicht bestehen würden. Rechtsmissbrauch im vorliegenden Zusammenhang durch den Kläger wäre dann anzunehmen, sofern er sich nicht beworben haben sollte um die ausgeschriebene Stelle zu erhalten, sondern es ihm darum gegangen sein sollte, nur den formalen Status als Bewerber im Sinne von § 6 Abs. 1 S. 2 AGG zu erlangen mit dem ausschließlichen Ziel, Ansprüche auf Entschädigung/- oder Schadensersatz geltend zu machen. Dabei führt nicht jedes rechts- oder pflichtwidrige Verhalten stets oder auch nur regelmäßig zur Unzulässigkeit zur Ausübung der hierdurch erlangten Rechtstellung. (…) Die Darlegungs- und Beweislast für das Vorliegen der Voraussetzungen, die den rechtshindernden Einwand des Rechtsmissbrauchs begründen, trägt nach den allgemeinen Regeln der Verteilung der Darlegungs- und Beweislast derjenige, der diesen Einwand geltend macht.“
Das LAG kommt dann auf einige von der Beklagten vorgebrachte Punkte zu sprechen, hält sie jedoch allesamt nicht für aussagekräftig. So ließen sich dem Bewerbungsschreiben des Klägers allein keine hinreichenden objektiven Umstände entnehmen, die den Schluss auf ein rechtsmissbräuchlichen Verhaltens des Klägers erlauben würden. Auch die Absage des Bewerbungsgesprächs, zu dem der Kläger eingeladen war, enthalte keine verwertbaren Anknüpfungspunkte. Die Vielzahl erfolgloser Bewerbungen und die Tatsache, dass in der Vergangenheit mehrere Entschädigungsprozesse geführt worden sind, erlaubten ebenfalls noch nicht den Schluss auf einen Rechtsmissbrauch. Nicht heranziehen möchte das LAG die Strafakte des Klägers, die aus einem gegen ihn gerichteten Strafverfahrens wegen Betrugs resultiert, das allerdings bislang noch nicht zu einer Verurteilung geführt hat. Abgelehnt wird schließlich auch eine Gesamtbetrachtung: „Auch wenn die Beklagte in ihrem tatsächlichen Vorbingen deutlich macht, dass bei der Bewerbung des Klägers bei der Beklagten eine Gesamtbetrachtung geboten ist, so entspricht dies nicht den klaren Vorgaben der vorzitierten Rechtsprechung des EuGH und des BAG. Es geht nämlich darum, ob es tatsächliche Umstände gibt, aus denen sicher angenommen werden kann, dass nur der formale Status als Bewerber vom Kläger angestrebt worden ist.“
Die Revision zum BAG ist nicht zugelassen worden. Allerdings hat die Beklagte dem Vernehmen nach Beschwerde gegen die Nichtzulassung eingelegt.
M.E. hat die Rechtsprechung die Latte für die Anerkennung des Einwands des Rechtsmissbrauchs zu hoch gelegt. Zwar hat das BAG – zu Recht – von dem einschränkenden Kriterium der vergleichbaren Bewerbersituation als Voraussetzung für eine Benachteiligung Abstand genommen hatte. Dann hätten aber im Gegenzug nicht auch noch die Voraussetzungen des Rechtsmissbrauchseinwands so hoch geschraubt werden sollen. Die Folge sind dann instanzgerichtliche Urteile, die jedenfalls im Ergebnis das Betreiben von AGG-Klagen weiterhin als ein lukratives Geschäftsmodell erscheinen lassen.