Wörtliche Übersetzungen: schlechte Formulierungen, unnötige Schöpfungen
Gespeichert von Peter Winslow am
Bei ehrlicher Betrachtung sind wörtliche Übersetzungen selten gut. Sie stellen häufig schlechte Formulierungen dar und sorgen nur für Verwirrung. Als Beispiel schaue man sich Section 198 der englischen Übersetzung des BGB an. Dieser Paragraph lautet wie folgt:
If a thing in respect of which a real claim exists comes into the possession of a third party by succession in title, the part of the limitation period that passed while possession was held by his predecessor in title is deemed to benefit the successor in title.
Diese Übersetzung ist aus zwei Gründen verwirrend. Erstens: Die Leser und Leserinnen könnten sich zwar bewusst sein, dass es sich bei der wörtlichen Übersetzung »thing« um einen in § 90 BGB definierten Begriff (also: Sache) handelt, Entsprechendes könnte aber nicht für den Begriff »real claim« gelten. So könnte man vielleicht mit der dummen Formulierung »a thing in respect of which« leben. Aber was könnte ein »real claim« sein? Kennt deutsches Recht »unreal claims«? Wenn ja, wie sollte man sie verfolgen? Was wird hier unterschieden? Zweitens: Der Wortlaut »part of the limitation period« erweckt den Anschein, als könnte die Verjährung aufgeteilt oder zerteilt werden (broken up or down) und als könnten diese Teile – vielleicht deswegen? – sterben: In dieser Übersetzung a part passed.
Dass sich angesichts dieser Übersetzung polemische Fragen und Formulierungen ohne Weiteres ergeben und anbieten, zeigt, dass wörtliche Übersetzungen schlechte Formulierungen – und zwar unabhängig davon, mit welchem Ernst sie verfolgt werden – darstellen, die mindestens zwei Risiken bergen können. Im besten Fall führen schlecht formulierte Übersetzungen zu gedanklichen Abschweifungen (siehe oben). Im schlechtesten Fall verkörpern schlecht formulierte Übersetzungen metaphysische oder ontologische Absurditäten, die man weder will noch braucht (siehe oben). In beiden Fällen zwingt eine schlechte Formulierung die Leser und Leserinnen, den Text aus den unproduktivsten Gründen mindestens noch einmal lesen zu müssen.
Man wird nämlich nicht zur nochmaligen Lektüre gezwungen, weil zu überprüfen ist, ob der Text aufgrund seines anspruchsvollen Gegenstands richtig verstanden wurde. Dies wäre unter durchaus denkbaren Umständen ein lobenswerter Grund, so zu schreiben und zu übersetzen, dass weitere Lektüren erforderlich sind (man denke nur an Ludwig Wittgenstein, Karl Kraus oder Stanley Cavell). Vielmehr wird man zur nochmaligen Lektüre gezwungen, um den Unglauben (sprich: disbelief) zu beseitigen. Bei der zweiten oder dritten Lektüre muss man dann einsehen, dass der Text nicht falsch gelesen wurde – dass das Problem nicht bei einem selbst, sondern am Text liegt. Das Ergebnis: Frust und Fehlen eines verständlichen Texts, und zwar zugleich wegen und trotz der Übersetzung.… It’s the kind of ridiculous thing that might make a postmodernist proud.