Skurrile strafrechtliche Folgen der Wohnraumknappheit
Gespeichert von Dr. Michael Selk am
Ich muss heute sehr verwundert geguckt haben, als ein Vertreter der Jugendgerichtshilfe mir in einer Hauptverhandlungspause mitteilte, ich mit meinem Verteidigungsansatz auf dem Holzweg (und ja, das hat durchaus mietrechtliche Relevanz). Also:
Ob ein Heranwachsender nach Jugend- oder Erwachsenenstrafrecht verurteilt wird, richtet sich gem. § 105 JGG u.a. auch danach, ob er zur Zeit der Tat noch nach seiner "sittlichen und geistigen" Entwicklung einem Jugendlichen gleichstand. Bislang ging ich - offenbar naiv - davon aus, dass ein Angeklagter, der noch zu Hause bei seinen Eltern wohnt und in der Ausbildung ist, in der Regel so "reifeverzögert" ist, dass ich mir über die Anwendung von Erwachsenenstrafrecht gar keine großen Gedanken machen muss.
Pustekuchen. Denn - so offenbar eine Tendenz in der Hamburger Jugendstrafjustiz - angesichts der Wohnraumknappheit in Hamburg würden die Heranwachsenden ja ohnehin zu Hause wohnen müssen, da ein Auszug aufgrund der hohen Mieten und damit ein Wegzug von Mami und Papi gar nicht in Betracht komme. Folglich sei der Umstand, dass ein Heranwachsender noch zu Hause bei den Eltern wohnt, kein Indiz für eine Reifeverzögerung - jedenfalls nicht in Hamburg.
Überzeugend ist dies, wie heute bereits auch mit Henning Müller auf twitter diskutiert, keineswegs. Entscheidend dürfte sein, dass sich ein 19jähriger, der noch zu Hause bei seinen Eltern wohnt, dort in der Regel keineswegs adäquat selbständig im Vergleich zu einem Gleichaltrigen entwickeln kann, der schon seinen eigenen Haushalt führt. Auf die Gründe für diesen Umstand, die durchaus außerhalb der Einflusssphäre des Heranwachsenden liegen können, kann es nicht ankommen. Im Ergebnis führt die Wohnungsnot in Ballungszentren so zu einer "in dubio pro" Erwachsenenstrafrechtrechtsprechung, was offensichtlich willkürlich erscheint. Auf die Spitze getrieben: hast du in Ballungszentren keine andere Chance als noch zu Hause zu wohnen wirst du dafür "doppelt bestraft", oder noch besser: zieh auf's Land, dann "bekommst du nur Jugendstrafrecht".
In Düsseldorf jedenfalls schien man es zuletzt trotz dortiger Wohnraumknappheit und hoher Mieten anders zu sehen. In einem Urteil vom 10.8.2012 des AG Düsseldorf heißt es:
"Der Angeklagte war zur Tatzeit 19 Jahre und damit Heranwachsender. Er wohnte jedoch noch zu Hause und befand sich noch in der Ausbildung und stand damit weder finanziell noch hinsichtlich seiner Wohnsituation auf eigenen Beinen, so dass Entwicklungs- und Reifeverzögerungen nicht auszuschließen sind und auf den Angeklagten nach §§ 1, 105 JGG Jugendstrafrecht anzuwenden war." (132 Ds 162/12, juris).