AGG I: Die Rückkehr des Rechtsmissbrauchs
Gespeichert von Prof. Dr. Christian Rolfs am
Nach dem Urteil des EuGH in Sachen Nils Kratzer (EuGH, Urt. vom 28.7.2016 - C-423/15, NZA 2016, 1014) und dem anschließenden Revisionsurteil des BAG (Urt. vom 26.1.2017 - 8 AZR 848/13, BeckRS 2017, 112923) konnte man den Eindruck gewinnen, als habe die Rechtsprechung die Voraussetzungen für den Einwand des Rechtsmissbrauchs (§ 242 BGB) bei Schadensersatz- und Entschädigungsklagen nach § 15 AGG so hoch gehängt, dass sie praktisch niemals erfüllt sein werden. Das BAG hatte seinerzeit erkannt (Rn. 130 des zitierten Urteils):
Die Feststellung einer missbräuchlichen Praxis verlangt das Vorliegen eines objektiven und eines subjektiven Elements. Hinsichtlich des objektiven Elements muss sich aus einer Gesamtwürdigung der objektiven Umstände ergeben, dass trotz formaler Einhaltung der in der betreffenden Unionsregelung vorgesehenen Bedingungen das Ziel dieser Regelung nicht erreicht wurde. In Bezug auf das subjektive Element muss aus einer Reihe objektiver Anhaltspunkte (...) die Absicht ersichtlich sein, sich einen ungerechtfertigten Vorteil aus der Unionsregelung dadurch zu verschaffen, dass die entsprechenden Voraussetzungen willkürlich geschaffen werden.
Ein jetzt veröffentlichtes Urteil des BAG (dazu bereits hier im BeckBlog) belegt nun, dass der Einwand des Rechtsmissbrauchs weiterhin durchgreifen kann:
Der Beklagte, ein Zusammenschluss von Trägern diakonischer Arbeit, hatte eine Stelle für "eine/n Referent/in Arbeitsrecht" ausgeschrieben. Darin wurde von den Bewerberinnen und Bewerbern ua. die Mitgliedschaft in der evangelischen Kirche gefordert und "erste Berufserfahrungen (3 Jahre)" als "wünschenswert" bezeichnet. Der Kläger (derselbe wie oben) bewarb sich unter Hinweis auf seine nahezu neunjährige Berufserfahrung als selbständiger Rechtsanwalt auf die Stelle. Zu seiner Kirchenmitgliedschaft schrieb er: "Derzeit gehöre ich aus finanziellen Gründen nicht der evangelischen Kirche an, jedoch kann ich mich mit den Glaubensgrundsätzen der evangelischen Kirche identifizieren, da ich lange Mitglied der evangelischen Kirche war."
Nachdem der Beklagte ihm eine Absage erteilt (und die Stelle zunächst unbesetzt gelassen hatte), machte der Kläger Schadensersatz- und Entschädigungsansprüche geltend, da er (mittelbar) wegen seines Alters und der fehlenden Kirchenmitgliedschaft diskriminiert worden sei. Zuletzt hat er nur noch den Entschädigungsanspruch nach § 15 Abs. 2 AGG weiterverfolgt. Seine Klage blieb in allen drei Instanzen ohne Erfolg. Das BAG begründet sein Revisionsurteil ua. wie folgt:
Der Umstand, dass der Kläger in seinem Bewerbungsschreiben auf der einen Seite auf vorhandene Qualifikationen und positive Eigenschaften, wenn überhaupt, nur pauschal und schlagwortartig eingegangen ist, dass er auf der anderen Seite aber pointiert herausgestellt hat, dass und warum er die - diskriminierungsrechtlich relevanten - beruflichen Anforderungen der Kirchenmitgliedschaft und einer Berufserfahrung von - aus seiner Sicht maximal -drei Jahren - nicht erfüllt, lässt nur den Schluss zu, dass es dem Kläger nicht darum ging, den Beklagten davon zu überzeugen, dass er der bestgeeignete Bewerber war, sondern dass er beabsichtigte, dem Beklagten bereits nach einem ersten Lesen des Bewerbungsschreibens durchgreifende Gründe für eine Absage zu geben. Dies wiederum lässt nur den Schluss zu, dass der Kläger mit der zu erwartenden Absage nur die Grundlage dafür schaffen wollte, erfolgreich eine Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG geltend machen zu können, weil im Fall der Erfolglosigkeit der Bewerbung alles darauf hindeuten musste, dass seine fehlende Kirchenzugehörigkeit sowie sein Alter hierfür zumindest mitursächlich waren.
BAG, Urt. vom 25.10.2018 - 8 AZR 562/16, BeckRS 2018, 40097