EuGH verlangt effektive Arbeitszeiterfassung
Gespeichert von Prof. Dr. Markus Stoffels am
Eine neue EuGH-Entscheidung (Urteil vom 14.5.2019 - Rs. C-55/18, Federación de Servicios de Comisiones Obreras (CCOO)/Deutsche Bank SAE) zur Arbeitszeiterfassung hat für erhebliches Aufsehen gesorgt und es sogar auf Platz 1 der 20.00 Uhr-Tagesschau geschafft. Erste besorgte Stellungnahmen sprechen von einem „aus der Zeit gefallenen Urteil“ und sagen die flächendeckende Wiederkehr der Stechuhr voraus. Richtig ist, dass diese Entscheidung – auch wenn es um ein spanisches Ausgangsverfahren geht - das deutsche Arbeitsrecht nicht unberührt lassen wird. Worum ging es? Die spanische Gewerkschaft Federación de Servicios de Comisiones Obreras (CCOO) erhob vor der Audiencia Nacional (Nationaler Gerichtshof, Spanien) eine Klage auf Feststellung der Verpflichtung der Deutsche Bank SAE, ein System zur Erfassung der von deren Mitarbeitern geleisteten täglichen Arbeitszeit einzurichten. Sie vertritt die Auffassung, dass mit diesem System die Einhaltung der vorgesehenen Arbeitszeit und der in den innerstaatlichen Rechtsvorschriften vorgesehenen Verpflichtung, den Gewerkschaftsvertretern die Angaben über die monatlich geleisteten Überstunden zu übermitteln, überprüft werden könne.
Die Kernfrage lautet, ob sich aus dem europäischen Recht eine solche Verpflichtung ableiten lässt. Und tatsächlich erklärt der Gerichtshof, dass die Arbeitszeit-Richtlinie 2003/88/EG und die Richtlinie 89/391/EWG über die Sicherheit und Gesundheit der Arbeitnehmer bei der Arbeit im Licht der Charta eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten entnommen werden kann, ein objektives, verlässliches und zugängliches System einzurichten, mit dem die von einem jeden Arbeitnehmer geleistete tägliche Arbeitszeit gemessen werden kann. Bemerkenswert ist ferner, dass der EuGH allein die Verpflichtung zur Erfassung von Überstunden nicht als ausreichend erachtet: „Die Einstufung als `Überstunden´ setzt nämlich voraus, dass die Dauer der von dem jeweiligen Arbeitnehmer geleisteten Arbeitszeit bekannt ist und somit zuvor gemessen wurde. Die Verpflichtung, nur die geleisteten Überstunden zu erfassen, bietet den Arbeitnehmern daher kein wirksames Mittel, mit dem zum einen gewährleistet werden kann, dass die von der Richtlinie 2003/88 festgelegte wöchentliche Höchstarbeitszeit, die die Überstunden einschließt, nicht überschritten wird, und zum anderen, dass die in dieser Richtlinie vorgesehenen täglichen und wöchentlichen Mindestruhezeiten in jedem Fall eingehalten werden.“
Was folgt daraus für das deutsche Arbeitsrecht? Kann es weiterhin nicht registrierte Überstunden geben? Wie steht es mit der vielfach praktizierten Vertrauensarbeitszeit? Dass der deutsche Gesetzgeber das Arbeitszeitgesetz um eine grundsätzlichen Verpflichtung der Arbeitgeber ergänzen muss, ein System einzurichten, mit dem die tägliche Arbeitszeit erfasst werden kann, liegt auf der Hand. Fraglich ist, welche Spielräume ihm und damit den Arbeitgebern insoweit zuzugestehen sind. Solche deutet der EuGH immerhin an. Wörtlich heißt es in Rn. 63 der Urteils: „Doch obliegt es … den Mitgliedstaaten, im Rahmen des ihnen insoweit eröffneten Spielraums, die konkreten Modalitäten zur Umsetzung eines solchen Systems, insbesondere dessen Form, festzulegen, und zwar gegebenenfalls unter Berücksichtigung der Besonderheiten des jeweiligen Tätigkeitsbereichs, sogar der Eigenheiten bestimmter Unternehmen, namentlich ihrer Größe; dies gilt unbeschadet von Art. 17 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88, nach dem die Mitgliedstaaten unter Beachtung der allgemeinen Grundsätze des Schutzes der Sicherheit und der Gesundheit der Arbeitnehmer Ausnahmen u. a. von den Art. 3 bis 6 dieser Richtlinie vornehmen dürfen, wenn die Dauer der Arbeitszeit wegen besonderer Merkmale der ausgeübten Tätigkeit nicht bemessen und/oder vorherbestimmt ist oder von den Arbeitnehmern selbst bestimmt werden kann.“ Abgesehen davon bleibt festzuhalten, dass der EuGH sich zu vergütungsrechtlichen Fragen nicht geäußert hat.