Zum Urteil im Regensburger Prozess um Vorteilsannahme/Vorteilsgewährung
Gespeichert von Prof. Dr. Henning Ernst Müller am
Ich hatte heute im Justizgebäude zu tun – mündliches Examen der Ersten Juristischen Prüfung. Zwei Stockwerke unter uns wurde währenddessen das Urteil in der Strafsache gegen Wolbergs u.a. verkündet. Erst ab mittags konnte ich in persona Teile der (mündlichen) Urteilsbegründung anhören.
Folgende Fragen haben nicht nur die Regensburger Juristenwelt seit drei Jahren in Atem gehalten: Haben die Regensburger (darunter auch ich) 2014 einen Vorteil annehmenden oder gar bestechlichen Oberbürgermeister gewählt? Oder hat Regensburg eine aus dem Ruder laufende Staatsanwaltschaft, die rechtschaffene Bürger und Politiker zu Unrecht verdächtigt und sogar schikanös verfolgt? Oder gar, man mag es sich nicht ausdenken, stimmt sogar beides zu einem gewissen Teil? Die Wirtschaftsstrafkammer hatte sich nach 59 Tagen Hauptverhandlung jedenfalls äußerst bedeckt gehalten, welches Urteil sie fällen würde. Und diese Ergebnisse wurden gestern verkündet:
Der SPD-Fraktionsvorsitzende H. wurde freigesprochen.
Der Unternehmer T. wurde verurteilt zu 10 Monaten Freiheitsstrafe (zur Bewährung ausgesetzt); daneben wurde ihm auferlegt 500.000 Euro zu zahlen.
Ein ehemaliger Geschäftsführer des Unternehmens, W., wurde zu 180 Tagessätzen Geldstrafe verurteilt.
Der Oberbürgermeister der Stadt Regensburg wurde wegen zwei Fällen der Vorteilsannahme (Vorteile im Gesamtwert von 150.000 Euro) verurteilt, von einer Strafe wurde nach § 60 StGB abgesehen.
Es folgt eine kleine Besprechung, vor allem zu den objektiven und rechtlichen Gesichtspunkten des Urteils, aufgeteilt in Zustimmung (I.) und Kritik (II.).
I. Zustimmung
1. Freispruch
Nach allem, was ich mitbekommen habe von den Vorwürfen gegen den Fraktionsvorsitzenden der SPD-Stadtratsfraktion, den Angeklagten H., kam nur ein Freispruch in Betracht. Ein bewusstes Zusammenwirken mit dem OB oder dem Bauunternehmer konnte nicht nachgewiesen werden und alles, was er politisch im Hinblick auf die Ausschreibung des Bauareals Nibelungenkaserne unternahm, mag zwar für den einen oder die andere politisch kritikwürdig gewesen sein, einen Straftatbestand erfüllte es nicht. Der Freispruch ist aus meiner Sicht überzeugend.
2. Verstoß gegen das Parteiengesetz – „Strohmannspenden“
Die Strafkammer hat sich in ihrem Urteil hinsichtlich des Bauunternehmers nicht irritieren lassen von den selbst für die Beteiligten selbst kaum zu durchschauenden Kapriolen: Erst wurde den Mitarbeitern ein Betrag – exakt berechnet nach brutto und netto – überwiesen, diese Beträge knapp unter der Veröffentlichungsgrenze spendeten sie dann und später soll der Spendenbetrag wieder von ihren Gewinnbeteiligungen abgezogen worden sein. Die Kammer hat festgestellt, dass diese Vorgehensweise nur der Verdeckung eines Strohmannsystems diente, um seitens des Unternehmens an den dritten Bürgermeister, ab 2014 Oberbürgermeister, zu spenden, ohne die für eine Demokratie unerlässliche gesetzliche Transparenzpflicht einzuhalten. Dass eine solche Umgehung des Parteiengesetzes auch dann nicht akzeptiert werden kann, wenn sie besonders schlau eingefädelt wird und auch noch behauptet wird, dies sei in Deutschland inzwischen gängige Praxis, hat das Gericht zutreffend beurteilt. Insofern ist der Verurteilung des Bauunternehmers und des Geschäftsführers, der dieses System einrichtete und am Laufen hielt, zuzustimmen. Dass auch ein anderer, der nicht Mitglied der Partei ist, durch „Bewirken“ einer falschen Erklärung sich nach § 31d Abs.1 Nr.1 PartG strafbar machen kann, dem kann ich folgen.
3. Vorteilsgewährung
Der Würdigung des Gerichts stimme ich zu: Aus der Zulässigkeit einer Parteispende folgt nicht die Rechtmäßigkeit einer Vorteilsgewährung. Ein rechtswidriger (Dritt-)Vorteil liegt vor, wenn damit die Dienstausübung eines Amtsträgers beeinflusst werden soll. Zudem braucht der Vorteil (der ohnehin nicht unbedingt ein Vermögensvorteil sein muss) auch nicht aus dem Vermögen des Gewährenden direkt stammen. Ein Vorteil liegt auch darin, andere zum Spenden aufzufordern und zwar so, dass die Transparenzregeln umgangen werden können, die gelten würden, wenn der Unternehmer direkt den Gesamtbetrag spendete. Ich hatte dies in meinem Beitrag vom 26.11.2018 ähnlich beschrieben:
„Der Vorteilsbegriff des § 331 StGB setzt keine unmittelbare Vermögensverschiebung zwischen Vorteilsgeber und Vorteilsnehmer voraus. Wenn T. sich dafür einsetzte, dass seine Mitarbeiter jährlich aus ihrem eigenen Vermögen spenden, könnte allein darin schon der angebotene, versprochene oder gewährte Vorteil liegen. Wenn T. Einfluss auf seine Mitarbeiter ausübte, kommt es nicht entscheidend darauf an, ob er persönlich Großspender gestückelter Spenden ist oder ob er nur seine Mitarbeiter dazu motivierte, aus ihrem eigenen Vermögen zu spenden. Im Hinblick auf eine evtl. Unrechtsvereinbarung könnten sie dann im Sinne des § 25 Abs.1 Alt.2 StGB als Tatmittler („vorsatzlose Werkzeuge“) des Unternehmers gehandelt haben.“
4. Keine Bestechung/Bestechlichkeit
Eindrucksvoll bis ins Detail gehend hat die Vorsitzende in ihrer mündlichen Urteilsbegründung dargelegt, dass die Indizien für eine Strafbarkeit nach den §§ 332, 334 StGB entweder gar nicht vorlagen (Sparkasse) oder der Kammer nicht hinreichend erschienen, um diesen Vorwurf zu belegen (andere angeklagte Fälle von Vorteilen, die lt Anklage mit dienstpflichtwidrigen Handlungen des OB verknüpft gewesen sein sollen). Schon im Eröffnungsbeschluss hat das Gericht dies so gesehen und daran hat sich durch die Beweisaufnahme nichts geändert. Auch wenn ich die entsprechenden Beweisaufnahmen nur bruchstückhaft verfolgt habe, so überzeugt mich die Urteilsbegründung insofern.
5. Vorteilsannahme hinsichtlich der Spenden nach der Wahl (2015 und 2016)
Das Gericht hat die Rechtslage hinsichtlich solcher Spenden, die nach der Wahl zum OB gewährt und angenommen wurden, im Ergebnis so beurteilt wie ich dies in meinem Beitrag vom 4. 6.2019 ausgeführt habe:
„Dem ist entgegenzuhalten, dass jedenfalls hinsichtlich der Spenden, die nach dem Wahltag an den vom OB kontrollierten Ortsverein geleistet wurden, die Kremendahl-Rechtsprechung nicht greift, denn diese bezieht sich ja nur auf „Wahlkampfspenden“, nicht allgemein auf Parteispenden. Nur Spenden im bzw. für den Wahlkampf sollen privilegiert sein, weil sonst Amtsträger bei der Wahl benachteiligt seien. Mit dieser Begründung wäre es unvereinbar, auch Spenden an einen Amtsträger, die erst nach der Wahl geleistet werden, ebenfalls als privilegiert anzusehen. Auch die Annahme, im vorliegenden Fall seien Kosten des Wahlkampfs mit weiteren „Wahlkampfspenden“ nachträglich aufgefangen worden, zieht hier wohl nicht. Mit einer solchen Konstruktion würde nämlich ein Einfallstor für Vorteilsgewährungen geschaffen, die dann regelmäßig als Spenden für (frühere oder künftige) Wahlkämpfe deklariert werden könnten. Selbst wenn man der Verteidigung also dahingehend folgt, die Spenden bis zum Wahltag blieben nach Kremendahl II straflos, weil keine konkreten Diensthandlungen damit beeinflusst werden sollten, kann dies nach meiner Auffassung nicht für die Vorteile gelten, die erst nach der OB-Wahl im März 2014 versprochen oder gewährt bzw. angenommen wurden.“
Nach der Wahl durfte der OB keine Spenden aus Richtung des Unternehmers mehr annehmen, denn es war erkennbar, dass diese Spenden sich auf seine Dienstausübung als Oberbürgermeister bezogen. Es geht dabei um rund 150.000 Euro. Ohne das Ermittlungsverfahren wären über das Strohmannsystem des Bauunternehmers wohl auch noch weiter Spenden geflossen, möglicherweise bis heute.
II. Kritik am Urteil
1. Keine Strohmannspenden, wenn Spendenbetrag nicht zuvor auf das Konto der Mitarbeiter überwiesen worden ist?
Dass die Kammer das vom Bauunternehmer eingerichtete System der Spendenstückelung nur dann als strafbar bejaht, wenn die Spendenbeiträge bereits vor der Spende auf das Konto des jew. Mitarbeiters überwiesen wurde, nicht aber, wenn dies erst nach der Spende geschehen sei, ist eine gekünstelte Unterscheidung, nahezu eine Anleitung zur Umgehung der Anwendung des Parteiengesetzes. Selbstverständlich ist es auch dann eine Spendenstückelung, wenn einem Mitarbeiter die spätere Rückzahlung des Spendenbeitrags zugesagt wurde. Und Indiz für eine solche Zusage ist die tatsächliche Ausgleichszahlung in eben der Höhe, in der gespendet wurde. Der Eingangszeitpunkt auf dem Konto des Mitarbeiters dürfte keinerlei Rolle spielen. Diesen Teil der Urteilsbegründung des Gerichts sollten an intransparenten Spenden interessierte Unternehmer schnell wieder vergessen, denn man kann prophezeien, dass der BGH eine solche Differenzierung nicht durchgehen lässt.
2. Kein Vorsatz des angeklagten OB beim Verstoß gegen das Parteiengesetz?
Nach der Würdigung des Gerichts hatte der OB bei der Annahme der vielen auf 9900 bzw. 9990 Euro lautenden Spendensummen keinen Vorsatz dahingehend, dass diese aus der Richtung des angeklagten Unternehmers stammten, der dafür ein Strohmannsystem eingerichtet hatte. Deshalb soll nach Würdigung der Kammer bei ihm der Vorwurf, gegen das ParteienG verstoßen zu haben, entfallen. Es ist aber nicht Voraussetzung für die Annahme eines dolus eventualis, dass der OB genau wusste, wie das System auf der Seite des Unternehmers organisiert wurde, weshalb Vorsatz meines Erachtens hier relativ nahe lag. Ich bin daher vom Freispruch diesbezüglich nicht überzeugt.
3. Keine Vorteilsannahme bei den Spenden von 2011 bis 2014?
Die Kammer hat die Vorteilsannahme für diese Jahre mit dem Argument verneint, die verschiedenen Ämter (als dritter Bürgermeister und als späterer OB) bewirkten, dass die Annahme sich nur auf die Dienstausübung des jeweilig innegehabten Amtes beziehe. Als dritter Bürgermeister sei er aber nicht mit der Bauwirtschaft befasst gewesen. Die Idee, dass die Vorteilsannahme nur „für die Dienstausübung“ des im Moment der Annahme innegehabten Amtes gelte, aber nicht für die Dienstausübung in einem (potentiell) späteren Amt, stammt aus der Diskussion um die Kremendahl-Entscheidung. Ich hatte dies hier schon einmal erwähnt:
„Die überwiegende Meinung im Schrifttum folgt dem BGH in dieser grundsätzlichen Ausrichtung. Jedoch zeigen sich die vom BGH angedeuteten Schwierigkeiten nun auch im Regensburger Fall: Der OB Regensburgs war, anders als der Wuppertaler OB, nicht bereits vor der Wahl in diesem Amt. Er war allerdings bereits dritter Bürgermeister, also Amtsträger. Hier wird das Gericht ggf. entscheiden müssen, inwieweit § 331 für denjenigen Amtsträger eingeschränkt gilt, der sich auf ein anderes Wahlamt bewirbt, wenn die Spende erst die Dienstausübung in dem neuen Amt beeinflussen soll. Eine durchaus beachtliche Meinung zu dieser Konstellation vertreten Beckemper/Stage (NStZ 2008, 35): Eine Wahlkampfspende, die im Hinblick auf die Dienstausübung des erst künftigen Amtes gewährt werde, werde von § 331 StGB gar nicht erfasst. Insofern bestehe auch kein Unterschied zwischen Amtsinhabern und anderen Kandidaten um ein Wahlamt.“
Ich bevorzuge hinsichtlich der weit vor oder nach der Wahl von 2014 angenommenen Spenden allerdings eine andere Lösung, nämlich diejenige des BGH in der Kremendahl-Entscheidung (damals allerdings ging es um die Wiederwahl in dasselbe Amt). Wahlkampfspenden sind, sofern sie nicht mit einem konkreten Projekt verbunden sind, keine Vorteile im Sinne der §§ 331, 333 StGB. Die weit vor dem Wahlkampf (also 2011 und 2012) sind ebenso wie die nachher (2015 und 2016) eingeworbenen und angenommenen Vorteile in der strafbaren „Zone“, soweit damit die künftige Dienstausübung beeinflusst werden sollte. Ein Amtsträger darf insgesamt nicht "den Anschein der Käuflichkeit" erwecken, ganz gleich ob für das momentane Amt oder für (mögliche) spätere Ämter.
Aus der Lösung, die die Kammer für richtig hält, folgt nämlich, dass für spätere Ämter aussichtsreiche Personen, die schon ein anderes Amt innehaben (z.B. der jüngere Stellvertreter eines Behördenchefs, der für die Chefrolle vorgesehen ist, wenn dieser in Ruhestand geht), auch außerhalb von Wahlkämpfen „angefüttert“ werden könnten - und zwar potentiell sogar mit Vorteilen im Millionenbereich, nach dem Motto: Wir gehen davon aus, dass Sie sich erkenntlich zeigen, wenn Sie erst einmal "Chef" der Behörde sind. Zudem werden noch ganz andere Umgehungen ermöglicht, nämlich z.B. dass eine Parteispende „offiziell“ an einen Amtsträger derselben Partei geht, wie derjenige, dessen Dienstausübung tatsächlich beeinflusst werden soll.
Ich bin gespannt, wie der BGH diese Rechtsfrage beurteilt, wenn er die Gelegenheit dazu wahrnimmt.
4. Strafmilderung aufgrund Verbotsirrtum?
Dass der OB sich keiner Schuld bewusst war und tatsächlich glaubte, die Spenden annehmen zu dürfen, hat er immer wieder betont und das Gericht hat ihm geglaubt. Rechtlich stellt dies einen Verbotsirrtum dar, der allerdings nur im Falle der Unvermeidbarkeit die Schuld entfallen lässt (§ 17 StGB). Die Strafkammer hat zwar nicht die Unvermeidbarkeit angenommen, aber offenbar eine erhebliche Strafmilderung nach § 17 S. 2 StGB vorgenommen. Dies ist bei einem Amtsdelikt ungewöhnlich. Die (rechtliche) Problematik bei der Annahme von Vorteilen seitens eines Bauunternehmers, mit dem man dienstlich zu tun hat, liegt auf der Hand; dass es in Ausnahmefällen erlaubt ist, Spenden mit Bezug zum Dienst anzunehmen, kann jetzt nicht zu einer generellen Entlastung führen, nach dem Motto: Das durchschaut ja keiner, also handelt der Annehmende im schuldmindernden Verbotsirrtum. Als Bürgermeister standen dem Angeklagten viele Möglichkeiten offen Rechtsrat einzuholen. Er war zudem in seinen Ämtern umgeben von Juristen, die teilweise schon sehr lange in der Verwaltung arbeiten. Eine erhebliche Strafmilderung wegen des Verbotsirrtums erscheint deshalb recht fernliegend, ja beinahe skandalös, auch wenn man berücksichtigt, wie regelmäßig in anderen Fällen von Amtsdelikten geurteilt wird.
5. Die Strafzumessung - insbesondere das Absehen von Strafe nach § 60 StGB (Update vom 4.7.2019)
Richtig war es in die Strafzumessung auch die strafverfahrensrechtlichen Folgen der Tat einfließen zu lassen. Insbesondere war es richtig, die Verfahrensfehler der Staatsanwaltschaft strafmildernd zu berücksichtigen, wozu die in der Form unangemessene Untersuchungshaft, die fehlerhafte TKÜ-Durchführung und auch die m.E. schwerwiegende Verletzung des Fair-Trial-Gebots durch die Stückelung der Anklagen gehören.
Deutlich anders als das Gericht sehe ich jedoch das Absehen von Strafe (§ 60 StGB) als Reaktion auf die beiden Fälle der Vorteilsannahme, die das Gericht als strafbar angesehen hat.
§ 60 StGB, der für die Strafzumessung bei dem OB herangezogen wurde, lautet:
„Das Gericht sieht von Strafe ab, wenn die Folgen der Tat, die den Täter getroffen haben, so schwer sind, dass die Verhängung einer Strafe offensichtlich verfehlt wäre.“
Ein Absehen von Strafe nach der Ausnahmevorschrift § 60 StGB ist in der Praxis ein sehr seltenes Ereignis, das im Jahr 2017 bei nur 176 von 656000 Verurteilungen eintrat, das sind 0,02 %. Typische Anwendungsfälle sind solche, in denen die Tat unmittelbar (auch) den Täter so substantiell getroffen hat, dass diese Schädigung als selbst zugefügte Strafe genügt – ein Beispiel wäre ein vom Täter verschuldeter Unfall, in dem der Ehepartner oder sein eigenes Kind getötet oder er selbst schwer verletzt wurde. Ich habe bisher keinen Strafrechtler getroffen, der in dem hiesigen Fall § 60 StGB als Anwendungsfall ernsthaft in Betracht gezogen hätte, also in einem Fall der Vorteilsannahme durch einen Amtsträger und Politiker, der durch die Ermittlungen, die U-Haft, diverse Ermittlungsfehler und die Berichterstattung schwer belastet wurde und praktisch sein Amt eingebüßt und seine politische Karriere beschädigt hat. Wer mich kennt, weiß, dass ich hinsichtlich der Wirkung strafrechtlicher Sanktionen generell eher skeptisch bin und regelmäßig eher zu harte als zu weiche Strafen kritisiere. Deshalb würde ich mir wünschen, dass auch § 60 StGB generell häufiger angewendet wird als dies in Deutschland derzeit geschieht. Dennoch erscheint mir die Anwendung der Norm im vorliegenden Fall nicht sachgerecht. Meine Einwände im Konkreten:
a) Nicht das Delikt selbst, sondern erst dessen Aufdeckung hat den Schaden beim OB ausgelöst, der nun von der Kammer als so erheblich angesehen wird, dass eine "Strafe offensichtlich verfehlt" wäre. Zwar können mit "Folgen der Tat" auch die (psychischen) Belastungen durch das Verfahren gemeint sein, es gibt in der Kommentarliteratur einige wenige Fälle. Jedoch ist eine erweiterte Anwendung kaum im Sinne des Gesetzes, weil das Ermittlungsverfahren die übliche Folge eines Straftatverdachts ist und typischerweise Menschen immer schwer dadurch beeinträchtigt werden (Durchsuchungen, Telefonüberwachung, U-Haft). Ein Ermittlungsverfahren würde quasi gegen sein eigenes Ziel geführt - das erscheint mir systematisch fragwürdig, weshalb es eine Ausnahme innerhalb der Ausnahme bleiben sollte.
b) Der Sinn des § 60 StGB wird in dieser Entscheidung grob missachtet. Denn von einem „offensichlichen" Verfehltsein einer Strafe kann nur die Rede sein, wenn ein Strafzweck (positive und negative Generalprävention, Spezialprävention) mit der Strafe nicht mehr erreicht werden kann, weil die Folgen der Tat z.B. dem Täter (und als Signal nach außen auch der Allgemeinheit) schon eine „Lehre“ erteilt haben, die eine zusätzliche Verhängung einer Geld- oder Freiheitsstrafe als völlig überflüssig erscheinen lässt.
Hier scheint aber gerade der umgekehrte Zweck erreicht zu sein: Der Verurteilte hat sich nicht etwa durch die Folgen der Tat dahingehend beeindrucken lassen, er habe Schuld auf sich geladen. Im Gegenteil, er nimmt das Absehen von Strafe als nachträgliche Bestätigung seiner Haltung, er sei unschuldig, obwohl er schuldig gesprochen wurde. D.h. eine Strafe (und sei sie auch angesichts der strafmildernd anzurechnenden Belastungen gering) hätte möglicherweise noch spezialpräventive Wirkung entfaltet, auch wenn das Gericht ihn von den meisten Vorwürfen der Anklage zutreffend freigesprochen hat.
Mit der negativen Generalprävention sieht es nicht anders aus: Die Allgemeinheit und andere Amtsträger erhalten aufgrund des Absehens von Strafe den Eindruck, die Annahme von immerhin 150.000 Euro durch den Oberbürgermeister sei kaum von Bedeutung. Es wird von vielen Medien von „Quasi“-Freispruch“ gesprochen und die Schuldfeststellung praktisch unterschlagen bzw. ins Gegenteil verkehrt.
Auch der Zweck der positiven Generalprävention würde durch eine Strafe noch gestützt und wird durch das Absehen missachtet: Indem die Vorsitzende ihren eigenen Schuldspruch zur Vorteilsannahme (und auch das Strohmannspendensytem des anderen Angeklagten) nicht als „Korruptionsaffäre“ bezeichnen wollte, hat sie kaum versteckt geäußert, eigentlich zu bedauern, § 331 StGB überhaupt anwenden zu müssen. Damit hat sie der positiven Normakzeptanz des Korruptionsstrafrechts einen Bärendienst erwiesen. Wie kann einer Verwaltung (hier und in anderen Kommunen) noch klar gemacht werden, dass es zutreffend strafbar ist, wenn Vorteile für die Dienstausübung angenommen werden und wenn Gelder, die für den eigenen Wahlkampf verwendet werden, eigentlich als "Drittvorteile" nicht so sehr ins Gewicht fallen? Auch der Zweck "positive Generalprävention" hätte durch eine (zumindest symbolische) geringe Strafe noch gefördert werden können.
Alle diese Zwecke wären durch eine (wenn auch schuldangemessen geringe) Strafe noch erreicht worden. Strafe hätte ihren Zweck eben nicht verfehlt, schon gar nicht wäre eine Strafe „offensichtlich“ verfehlt.
Um es zusammenzufassen: Ich halte die Entscheidung in diesem Punkt (Absehen von Strafe) für rechtsfehlerhaft.
Update in eigener Sache (9.7.2019):
E-Mail als "Offener Brief" Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Wolbergs,in einem Interview mit TVA, das am 5. Juli 2019 aufgenommen wurde, aber nach wie vor auf der Website des Senders zum Abruf verfügbar ist, behaupten Sie, ich hätte im podcast (Mittelbayerische Zeitung, aufgenommen am 4. Juli 2019) das Gericht zurechtgewiesen, weil es die Staatsanwaltschaft kritisiert hat. Sie bezeichnen meine angebliche Äußerung auch als unbegreiflich arrogant.
Ihre Behauptung entspricht nicht den Tatsachen. Im Gegenteil habe ich mich positiv dazu geäußert, dass das Gericht die Staatsanwaltschaft kritisiert hat. Ich habe lediglich mein Erstaunen darüber bekundet, dass das Gericht sich so geäußert hat, weil ich selbst so etwas in vielen Hauptverhandlungen noch nie erlebt habe. Ich habe aber das Gericht ausdrücklich nicht kritisiert, sondern es sogar positiv bewertet, dass damit die Unabhängigkeit zwischen Gericht und Staatsanwaltschaft dokumentiert wird und dass in diesem Prozess keine „Kumpanei“ zwischen Gericht und Staatsanwaltschaft erkennbar war.
Da es eine meiner zentralen Anliegen seit jeher ist, dass Gerichte und Staatsanwaltschaften möglichst getrennt voneinander agieren und ich mich z.B. seit jeher gegen den in Bayern verbreiteten Personalwechsel zwischen Gerichten und Staatsanwaltschaften ausspreche, trifft mich Ihre falsche Darstellung besonders. Ich fordere Sie hiermit auf, diese Wiedergabe zu berichtigen und in künftigen Interviews eine falsche Wiedergabe meiner Äußerungen zu unterlassen.
Mit freundlichen Grüßen
Henning Ernst Müller
Dieser Brief ging als E-Mail heuteMittag (9.7.19) an den Oberbürgermeister; eine evtl. eintreffende Antwort wird, falls von ihm gewünscht, ebenfalls an dieser Stelle veröffentlicht.
Update 3.11.2021
Morgen wird in Leipzig (BGH) über den Fall Wolbergs verhandelt, möglicherweise sogar über beide Urteile. Selsbtverständlich werde ich den Verlauf und das Ergebnis dieser Verhandlung auch hier im Beck-Blog zeitnah kommentieren.