Einwurf in den Hausbriefkasten um 13:25 Uhr - Zugang noch am gleichen Tag?
Gespeichert von Prof. Dr. Christian Rolfs am
Mit einer größeren "Segelanweisung" zur Feststellung, wann üblicherweise Hausbriefkästen geleert werden, hat der Zweite Senat des BAG einen Kündigungsrechtsstreit an das LAG Baden-Württemberg zurückgeschickt.
Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer von der Beklagten erklärten außerordentlichen Kündigung. Das Unternehmen hat seinen Sitz in Baden-Württemberg, der Arbeitnehmer wohnt auf der anderen Seite des Rheins im elsässischen B. Dort wird die Post früh am Vormittag ausgetragen, die Zustellung ist bereits um 11.00 Uhr beendet. Die Beklagte ließ das Kündigungsschreiben durch Boten am Freitag, den 27.1.2017, um 13:25 Uhr in den Hausbriefkasten des Klägers einwerfen. Dieser erhob am Montag, den 20.2.2017, Kündigungsschutzklage. Das LAG hat die Klage wegen Versäumung der Drei-Wochen-Frist des § 4 Satz 1 KSchG als unbegründet abgewiesen (§ 7 KSchG): Das Kündigungsschreiben sei noch am 27.1.2017 zugegangen, Fristablauf sei daher bereits der 17.2.2017 gewesen.
Dem mochte das BAG so nicht folgen:
Es ist Aufgabe des Berufungsgerichts festzustellen, wann nach der Verkehrsanschauung mit der Entnahme des am 27. Januar 2017 gegen 13:25 Uhr in den Hausbriefkasten eingeworfenen Briefs zu rechnen war. ... Bundesarbeitsgericht und Bundesgerichtshof haben bislang die Annahme einer Verkehrsanschauung, wonach bei Hausbriefkästen im Allgemeinen mit einer Leerung unmittelbar nach Abschluss der üblichen Postzustellzeiten zu rechnen sei, die allerdings stark variieren können, nicht beanstandet. ... Entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts stellen die örtlichen Zeiten der Postzustellung nicht unbeachtliche individuelle Verhältnisse des Empfängers dar. ... Das Landesarbeitsgericht wird Tatsachenfeststellungen zu einer (ggf. gewandelten) Verkehrsanschauung betreffend den Zeitpunkt der Leerung von Hausbriefkästen in dem von ihm als maßgeblich angesehenen räumlichen Gebiet (Französische Republik, Département Bas-Rhin oder Wohnort des Klägers) zu treffen haben, wonach eine solche noch bis 13:25 Uhr zu erwarten ist. Hierzu bedarf es allerdings eines substanziierten Tatsachenvortrags der Beklagten, die für den ihr günstigen Umstand eines Zugangs des Kündigungsschreibens noch am 27. Januar 2017 die Darlegungs- und Beweislast trägt.
Verwundert hat mich vor allem die Aussage zur Darlegungs- und Beweislast: Im Grundsatz ist es sicher richtig, dass die Arbeitgeberin den Zugang des Kündigungsschreibens darzutun und im Streitfall zu beweisen hat. Allerdings waren Tatsache und Uhrzeit des Einwurfs nach dem vom BAG mitgeteilten Tatbestand unstreitig. Dann ist es für mein Verständnis nunmehr Sache des Klägers, die ihm günstige Verkehrsübung darzutun, dass ihm das Kündigungsschreiben an diesem Tag nicht mehr im Rechtssinne zugegangen ist - denn davon hängt die ihm günstige Tatsache der Wahrung der Klagefrist ab.
BAG, Urt. vom 22.8.2019 - 2 AZR 111/19, BeckRS 2019, 24702