Lesen im Park und andere Freiheiten
Gespeichert von Dr. iur. Fiete Kalscheuer am
"Um heutzutage berühmt zu werden, dachte ich, reicht es schon, wenn man bloß auf einem Postkasten sitzt." - Der im Jahre 2011 viel zu früh verstorbene Journalist und Schriftsteller Marc Fischer schrieb vor einigen Jahren diesen Satz in einer Geschichte, in der es um einen jungen Mann geht, der sich spontan dazu entschließt, auf einen Postkasten zu klettern und zu schauen, was passiert. Die Geschichte endet damit, dass der "Postkastenmann" Unruhe bei den Passanten auslöst und schließlich von der Polizei dazu aufgefordert wird, vom Postkasten zu steigen.
Der Marc Fischer-Satz ließe sich derzeit abwandeln: "Um heutzutage berühmt zu werden, dachte ich, reicht es schon, wenn man bloß lesend auf einer Parkbank sitzt." - Zumindest handelt es sich hierbei nach Auffassung der Polizei Berlin bereits um ein rechtswidriges Verhalten. Auf ihrem Twitterkanal führt die Polizei Berlin wie folgt aus:
Grundsätzlich gilt laut der Verordnung zur Eindämmung des #Coronavirus in #Berlin: Man soll zuhause bleiben & nur aus triftigem Grund die eigenen 4 Wände verlassen. Picknicken im Park, das Lesen eines Buches im Freien u.a. gehören nicht dazu.
Spätestens seit der "Reiten im Walde"-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 1989 (1 BvR 921/85) ist indes geklärt, dass Art. 2 I GG die gesamte allgemeine Handlungsfreiheit schützt. Die gegenteilige Banalisierungslehre von Dieter Grimm, nach der (vermeintlich) banale Handlung keinen verfassungsrechtlichen Schutz genießen, sowie die Personlichkeitskerntheorie von Hans Peters, wonach der Schutz des Art. 2 I GG auf die Entfaltung des Kerns der Persönlichkeit beschränkt sei, haben sich mit guten Gründen nicht durchgesetzt: Die Frage, welche Handlungen banal und unbedeutend sind oder hingegen den eigenen Persönlichkeitskern ausdrücken, muss jede Person für sich selbst beantworten. Es ist nicht Aufgabe des Staates, dies für seine Bevölkerung zu entscheiden. Auch vermeintlich banale Handlungen - wie das Reiten im Walden oder das Taubenfüttern - fallen damit in den Schutzbereich des Art. 2 I GG; eine Einschränkung dieser Handlungen bedürfen einer verfassungsrechtlichen Rechtfertigung.
Die Entscheidung, im Freien ein Buch lesen zu wollen, stellt damit jedenfalls einen verfassungsrechtlich bedeutsamen Grund dar. Ob es sich dabei um einen "triftigen" Grund im Sinne der Verordnung zur Eindämmung des Coronavirus in Berlin handelt, ist eine Frage, die auf einer anderen Ebene zu diskutieren ist, - auf der Ebene der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung. Dass der Zweck der Eindämmung des Coronavirus in Berlin legitim ist, lässt sich nicht bestreiten. Zweifelhaft sind jedoch bereits die Geeignetheit und Erforderlichkeit der Maßnahme: Fördert das Verbot, ein Buch (allein) im Freien zu lesen, den Zweck der Eindämmung des Coronavirus? Wenn ja, gibt es mildere Maßnahmen bei (in etwa) gleicher Wirksamkeit?