Pflichtenkollision und Triage in der Coronakrise
Gespeichert von Prof. Dr. Henning Ernst Müller am
In dem Moment, in dem Situationen sich zu realisieren beginnen, die bislang eher in historischen Kontexten oder in Beispielsfällen aus Lehrbüchern auftauchten, scheint sich die Diskussion noch einmal neu zu entwickeln, geradezu „virulent“ zu werden.
Also vorausgeschickt: Niemand ist wohl daran interessiert, Ärzte strafrechtlich zu verfolgen oder ihnen auch nur moralische Vorwürfe zu machen, wenn sie in einer – auch in der Coronakrise hoffentlich nicht eintretenden – Lage über Leben und Tod von Menschen entscheiden müssen, weil Behandlungsmöglichkeiten fehlen. Da wir Juristen regelmäßig am warmen Schreibtisch sitzen, während andere möglicherweise in solche lebensentscheidenden Lagen geraten, liegt es mir fern, von eben dem warmen Schreibtisch aus gute und praktische Ratschläge zu geben, was zu tun und was zu unterlassen ist.
Andererseits soll auch der Vorwurf nicht bestehen bleiben, neben denjenigen, die versäumt hätten, sich um rechtzeitige medizinische Ausrüstung für Katstrophenfälle zu kümmern, hätten es auch die Strafrechtswissenschaftler versäumt, sich rechtzeitig Gedanken zu machen, was in solchen Situationen Recht und was Unrecht ist. Im Gegenteil: Recht viele Kolleg-inn-en, zu denen ich nicht gehöre, haben sich mit solchen rechtsdogmatischen und rechtsphilosophischen Problemen recht intensiv auseinandergesetzt. In dieser Auseinandersetzung wurde über die Dilemmata möglicher Katastrophenszenarien durchaus breit nachgedacht und diskutiert, ganz unabhängig von aktuellen Notlagen.
Leider sind dann gelegentlich (sogar von Juristenkollegen) einige wichtige Fragen teilweise so profanisiert worden, (ich spiele an auf das Theaterstück „Terror“, worüber wir ja auch hier im Beck-Blog diskutiert haben), dass der Eindruck entstand, das Strafrecht gebe keine angemessenen Antworten auf komplizierte Fragen. Manchmal wird dabei die Unterscheidung zwischen Rechtswidrigkeit und Schuld unterschlagen oder leichthin beiseitegeschoben. Zugegeben, es ist ja auch ein manchmal schwer zu vermittelndes Konzept, dass auch jemand, der Unrecht getan hat, aus bestimmten Gründen schuldlos und unbestraft bleibt, obwohl er im Tatzeitpunkt Herr seiner Sinne war und auch keinem Irrtum unterlag.
Insofern ist das, was ich hier aufschreibe, zunächst nur die Beantwortung der Frage (auch von Ärzten!), was denn nun „Recht“ sei, wenn die Anzahl der Personen, die gerettet werden kann, auf eine geringere Anzahl von zur Rettung erforderlichen Mitteln trifft. Ob dies folgende schon der (philosophische) Stein der Weisen ist, will ich nicht behaupten, es erscheint mir aber aus rechtlicher Sicht die vertretbarste Lösung.
Eine echte Pflichtenkollision besteht dann, wenn zwei gleichartige und gleichwertige Pflichten an den Verpflichteten herangetragen werden, er aber aus faktischen Gründen nur eine der beiden ausführen kann. Die eine Pflichtverletzung ist dann nach h.L. gerechtfertigt, wenn nur so die andere Pflicht erfüllt werden kann. Niemand kann vom Recht gezwungen sein, unmögliches zu leisten. Etabliert ist das Prinzip bei den Unterlassungsdelikten. Etwas umstritten ist, inwieweit es (insbes. im medizinischen Bereich) auch gilt, wenn die Differenz zu den Handlungen nicht mehr genau gezogen werden kann.
Wichtig ist dabei das „gleichartig“ und „gleichwertig“: Ist eine der beiden Pflichten rechtlich höherwertig, dann ist diese vorrangig zu beachten, d.h. die Verletzung dieser höherrangigen Pflicht ist dann obj. rechtswidrig, auch wenn die niederrangige erfüllt wird.
Es kann dann sein, dass trotz obj. Rechtswidrigkeit die Tat/Unterlassung unvorsätzlich ist, weil der Verpflichtete die Tatsachen nicht zutreffend beurteilt hat. Und es kann (in Notsituationen häufig) der Täter entschuldigt gehandelt haben und deshalb ebenso straflos bleiben. Die Unterscheidung zwischen Rechtfertigung und Entschuldigung ist dennoch nicht ganz unwichtig, weil Betroffene oder zB Angehörige bei rechtswidrigem Verhalten Notwehr leisten dürfen, bei rechtmäßigem Verhalten nicht.
Die derzeitige Diskussion dreht sich darum, was in den Fallkonstellationen rechtlich und ethisch richtig ist, die möglicherweise auf das medizinische Personal zukommen, wenn infolge der Pandemie Krankenhäuser an den Rand ihrer Kapazität oder darüber hinaus geraten.
Es gibt dazu etwa Diskussionen über Prinzipien der katastrophenmedizinischen Triage, insbesondere wann und wie diese gelten und auch, welche Prinzipien der Triage gelten sollen.
Man muss dazu verstehen, dass die Triage (aus der Sicht des obigen strafrechtlichen Konzeptes) wie auch ethische Prinzipen, die in dieser Triage schon enthalten sind oder daneben bestehen, Methoden sind, eine echte Pflichtenkollision zu vermeiden: Die Triage dient gerade dazu, zwischen verschiedenen Handlungspflichten des Arztes eine Rangordnung zu etablieren, so dass diese nicht mehr auf gleicher Höhe konkurrieren. Wenn also medizinische (und andere) Inhalte sowie Verfahren etabliert sind, die vorgeben, welche Pflicht gegenüber der anderen höherrangig ist, dann entscheidet dies zugleich darüber, ob sich der Arzt dem Recht gemäß verhält oder nicht. So ein Verfahren kann es dem Arzt erleichtern, Entscheidungen zu treffen, da so vorgegeben wird, wem (unter Vernachlässigung eines anderen Menschen) vorrangig geholfen werden muss. Es kann aber auch belasten, denn bei bewusster (!) Abweichung von diesem Verfahren droht möglicherweise Strafe.
Die Werte unseres Grundgesetzes geben allerdings vor, dass bestimmte Abwägungskriterien dabei zu unterbleiben haben: Menschenleben sind gleichwertig, gleich welchen Alters. Eine Abwägung wertvolleres Leben gegen weniger wertvolleres Leben kommt nicht in Betracht, auch ist ein jüngeres Leben nicht wertvoller als ein älteres. Und eine weitere Wertung aus der Strafrechtsdogmatik ist, dass eine Garantiepflicht, wie sie die schon begonnene Behandlung eines Patienten auslöst, einen Vorrang einräumt gegenüber neuen potentiellen Patienten.
Beide Punkte sind derzeit in der Diskussion von Fällen, in der üblicherweise solche Situationen geschildert werden (zB von Reinhard Merkel in der TalkShow Markus Lanz am 31.03.):
1. Mehrere Erkrankte werden gleichzeitig in ein Krankenhaus gebracht, es ist aber (mind.) ein Beatmungsgerät weniger vorhanden als benötigt wird.
2. Ein älterer Mensch wird bereits lebenserhaltend mit Beatmungsgerät behandelt, ein jüngerer Mensch oder ein Kind (neuer Patient) benötigen zum Überleben dieses Gerät.
ad 1. Man wird zunächst versuchen, nach medizinisch anerkannten Triage-Regeln, bei denen die akute Überlebenswahrscheinlichkeit ausschlaggebend ist, einen Vorrang/Nachrang zu ermitteln. Ist dies unmöglich, dann ist es rechtmäßig einen Menschen dem anderen vorzuziehen, aber eben NUR dann. Welche Regeln dann gelten, darüber kann man streiten. Am (wohl weltweit) verbreitetsten ist in Fällen gleicher Dringlichkeit das Prinzip "first come, first serve". Von den Patienten gleicher Dringlichkeit wird zuerst dem geholfen, der etwa als erster beim Krankenhaus angekommen ist. Mein Fakultätskollege Tonio Walter hält auch die Lösung per Los für angemessen, hier (Zeit-Online). Wenn man Wartenummern vergibt, ist ein solches Verfahren denkbar, indem die Nummern nicht der Reihe nach ausgegeben werden, sondern aus einem Lostopf gezogen werden müssen.
ad 2. In diesem Fall ist die Garantenpflicht vorrangig zu beachten, die gegenüber dem schon beatmeten Patienten gilt. Wird er (zugunsten eines anderen) vom Gerät genommen und damit aktiv getötet, kann dies schon theoretisch nicht mit den Regeln der „Pflichtenkollision“ gerechtfertigt werden, sondern nur nach § 34 StGB. Danach muss das geschützte Interesse das beeinträchtigte wesentlich überwiegen und die Tat muss ein angemessenes Mittel sein. Hier muss aber berücksichtigt werden, dass eine Abwägung Leben gegen Leben nicht zur Rechtfertigung führen kann. Ein Abschalten des Beatmungsgeräts kommt daher allenfalls in Betracht, wenn der Beatmete schon im Sterben liegt, die Beatmung also nur noch den Sterbeprozess verlängert.
Dass in Italien andere Regeln gelten, nach denen auch das bloße Alter (und zwar nicht nur als Indiz für Überlebenswahrscheinlichkeit) in die Abwägung einfließen soll, ist zu Recht kritisiert worden (Philosophin Weyma Lübbe) und entspricht nicht unserem (bisherigen) ethischen Verständnis.
Nochmals: Es geht hier nicht darum, Ärzte zu kriminalisieren oder ihnen auch nur den Job zusätzlich zu erschweren, sondern um eine rechtliche Einschätzung dieser Problematik.