Bevor ich platze - Corona und Grundrechtseingriffe (mit update)
Gespeichert von Dr. Michael Selk am
Ich entschuldige mich zunächst förmlich: es geht nicht um Miet-, WEG- oder privates Baurecht.
Gut - es könnte auch um Wohnungseigentumsrecht gehen, nämlich dann, wenn ein Wohnungseigentümer, der in Hamburg wohnt, zu einer WEG-Versammlung nach Schleswig-Holstein eingeladen würde. Dort käme er nämlich vermutlich momentan gar nicht hin - aufgrund der Landesverordnung Schleswig-Holsteins, die Einreise "aus touristischem Anlass" verbietet. Nun könnte er zwar bei der Polizeikontrolle sagen, dass die Wahrnehmung seiner Rechte in einer Wohnungseigentümerversammlung nichts mit Tourismus zu tun haben - und hätte damit sicherlich Recht. Indes: nachdem ich heute auf dem Weg in das nördlichste Bundesland angehalten wurde, obwohl nur eine kurze Fahrt von wenigen hundert Metern über die Landesgrenze und gleich wieder zurück geplant war und mich ein sehr freundlicher Polizeibeamter darüber aufklärte, dass eigentlich alles was ich da tue aus touristischem Anlass geschieht, lebt der alte Spruch von Recht haben ist eins, Recht bekommen das andere, wieder auf (§ 2 der LVO und die dortige Begründung erlaubt sogar ausdrücklich Spazierfahrten über die Landesgrenze, das mal am Rande - und private Zwecke sind nun einmal nicht automatisch Tourismus, wie etwa Verwandtenbesuche).
So weit so banal und unwichtig.
Wichtiger aber ist es wenn Folgendes mittlerweile passiert: Polizeibeamte halten homosexuelle Paare an, wollen sie nicht zusammen weitergehen lassen. Wenn das Pärchen die Beamten dann über den tatsächlichen Sachverhalt aufklärt, werden sie von den Beamten aufgefordert, den Chatverlauf ihrer Handys zu zeigen, um das zu "beweisen". Auch das geschieht in diesen Tagen.
Ich habe Verständnis für eine Vielzahl der Maßnahmen, die geschehen; sie sind sinnvoll und schützen uns erfolgreich.
Ich habe kein Verständnis dafür, dass nach meiner festen Überzeugung bis heute kaum eine Rechtsgrundlage dafür existiert (die jeweiligen Verordnungen sind Produkte der Exekutive und wahren auch angesichts der Eingriffsintensität den Gesetzesvorbehalt nicht, da es kein Parlamentsgesetz gibt). Ich habe noch weniger Verständnis dann, wenn es wie im Beispiel des homosexuellen Paares um Eingriffe geht, die in den absoluten Kernbereich gehen, den Menschenwürdegehalt, den Wesensgehalt von Grundrechten. Und ich bin entsetzt über die offenbar breite Akzeptanz der Bevölkerung - sogar von gestandenen Strafverteidigern! - dieser Grundrechtseingriffe.
Es geht, wie am Beispiel des homosexuellen Paares zu zeigen ist, nicht nur um Dinge wie: ich darf in Hamburg - nicht einmal ganz allein! - momentan keinen Döner kaufen und diesen auf dem öffentlichen Weg verzehren, oder: ich darf nicht nach Mecklenburg-Vorpommern fahren, um dort eine Verwandte zu besuchen. Es geht um essentielle Fragen unseres Rechtsstaats und um eine allmächtige Polizei, die täglich neue Kompetenzen erhält und sie auch noch überschreitet.
Ja, man mag Fortsetzungsfeststellungsklagen erheben, bei denen man sich dann über die Zulässigkeit (Wiederholungsgefahr?; besondere Schwere des Grundrechtseingriffs?) streiten kann. Darum geht es mir aber nicht. Ich bin nachhaltig irritiert über eine Akzeptanz, die all dies offenbar bei breiten Teilen der Bevölkerung findet - eine Akzeptanz, die übrigens durch alle Parteien reicht. Dafür hat es gerade drei Wochen gebraucht - nur.
Ich würde mich gerade in dieser Zeit über ein "Team Rechtsstaat" freuen.
----------------
UPDATE 6.4. angesichts der zahlreichen Kommentare:
Einige Kommentare dürften übersehen, dass es mir um Folgendes geht (s. dazu auch den Beitrag selbst):
1. Ich befürworte die meisten Maßnahmen, die stattfinden.
2.Ich hätte für diese gerne eine parl. Gesetzesgrundlage (Wesentlichkeitstheorie; Art. 80 I 1 GG - das sieht mittlerweile selbst der wiss. Dienst des deutschen Bundestages so).
3. Einige der Verordnungen sind unverhältnismäßig.
4.Manche Polizeibeamte handeln im rechtsfreien Raum.
Zu meinem blogbeitrag habe ich zahlreiche mails (übrigens oft mit "behördlichen Belegen" dazu) erhalten. Sie machen deutlich, dass insbesondere in Großstädten und Ballungszentren das Vorgehen der Polizei sich eben nicht auf Ausnahmefälle beschränkt. So sind Demonstranten - die die Mindestabstände einhielten - vorläufig verhaftet worden, weil sie kritisch gegen die Einschränkungen der Grundrechte u.a. der Versammlungsfreiheit äußerten. Es gab polizeiliche Maßnahmen gegen die, die sich quasi im Rahmen einer Performance in einer Fußgängerzone mit einem rot gemalten Radius von 2 m umgaben (Begründung: dies könne Menschengruppen anziehen, die dann den Abstand nicht einhalten würden). In einem Park in Hamburg wurde ein Bußgeld gegen einen Mann verhängt, der dort allein Pommes Frites auf einer Bank saß, die er sich gerade gekauft hatte. All dies mögen teils Bagatellen sein. Andere Kollegen berichten von gravierenderen Maßnahmen. Nach wie vor finde ich, dass der Fall des homosexuellen Paares gravierend ist, auch wenn andere Kommentatoren dies hier anders bewerten. Ich bin auch besorgt, dass es aus der Richterschaft unterschiedliche Stimmen dazu gibt, ob man die rechtsstaatlichen Maxime in diesen Tagen immer wirklich beachten muss.
Es scheint für die Zeit jetzt um so mehr typisch zu sein, dass wir Menschen polarisieren - vieles wird nur schwarz oder weiß gesehen. Extrem formuliert: es gibt vermeintlich entweder nur noch Menschen, die den Tod anderer billigend in Kauf nehmen, indem sie Freiheitsrechte wahrnehmen oder Menschen, die alle staatlichen Maßnahmen aus Sorge vor Ansteckung richtig finden (vielen in dieser Gruppe sind Dinge wie gesetzliche Grundlage, Fehler der Beamten usw gleichgültig). Es wäre schön, wenn es einen differenzierteren Blick auf die Probleme gäbe.
UPDATE 9.4.2020
Während immer mehr Staatsrechtsprofessoren auch die Auffassung vertreten, dass die jetzigen Ermächtigungsgrundlagen nicht genügen, agieren die Verwaltungsgerichte jedenfalls in Eilverfahren kurz und pragmatisch: es wird fast alles "durchgewunken". Sogar die "Immunen" dürfen z.B. nicht nach Mecklenburg-Vorpommern, mit im Rahmen der praktischen Konkordanz nicht mehr nachvollziehbaren Argumenten. Unstreitig geht von ihnen eine Gefährdung nicht aus; es geht letztlich um die Effizienz der Kontrollen. Unklar ist, was hier noch verhältnismäßig sein soll. Einen link zum heute vom VG Schwerin etwa entschiedenen Fall finden Sie hier.
UPDATE 16.4.2020
Immer mehr Verwaltungsgerichte sehen die Problematik langsam: so hat das VG Hamburg in einem 123er- Beschluss ebenfalls massive Zweifel daran geäußert, dass eine Verordnung ausreichend ist, um dem Parlamentsvorbehalt zu genügen. Der Beschluss ist hier, ab S. 5ff .