Loveparade 2010 - Einstellung des Verfahrens!
Gespeichert von Prof. Dr. Henning Ernst Müller am
Der Strafprozess betr. die Loveparade 2010 (21 Tote, hunderte Verletzte) ist soeben eingestellt worden.
Das ist bitter für die Nebenkläger, insb. die Hinterbliebenen der m.E. durch falsche Planung, unzureichende Vorbereitung und Einhaltung der Auflagen sowie falsche Reaktionen am Veranstaltungstag verursachten Todesfälle, die bis zuletzt zumindest auf die Einführung und Diskussion des schon seit zwei Jahren vorliegenden Gutachtens gehofft hatten.
Aus der Begründung des Beschlusses zitiert:
Die Einstellung des Verfahrens nach § 153 Abs. 2 StPO ist gerechtfertigt, weil eine etwaige Schuld der Angeklagten infolge einer Gesamt-schau aller relevanten Umstände zum jetzigen Zeitpunkt – im Rahmen des § 153 StPO ist die hypothetische Schuld eines Angeklagten im jeweiligen Verfahrensstadium zu beurteilen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 29.05.1990 – 2 BvR 254/88, 2 BvR 1343/88, Rn. 38, zitiert nach juris; BGH, Beschluss vom 21. Dezember 2006 – 3 StR 240/06, Rn. 2, zitiert nach juris) – als (nur) noch gering im Sinne dieser Vorschrift anzusehen ist und ein öffentliches Interesse an der weiteren Verfolgung nicht mehr besteht. Dabei hat die Kammer besonders gewertet, dass die tragischen Ereignisse auf der Loveparade in Duisburg am 24. Juli 2010 nach den bisher gewonnenen Erkenntnissen auf das Zusammenwirken einer Viel-zahl miteinander korrelierender Ursachen zurückzuführen sein dürften, das Geschehen bereits fast zehn Jahre zurückliegt, die Angeklagten durch selbiges sowie das mediale Interesse erheblich belastet gewesen sein dürften und inzwischen nur noch eine geringe Wahrscheinlichkeit besteht, das Verfahren mit einem Sachurteil beenden zu können.
Auf den weiteren ca. 40 Seiten des Beschlusses wird immerhin der vom Gericht für wahrscheinlich gehaltene Ablauf der Planung, Genehmigung und Durchführung der Loveparade 2010 zusammenfasend dargestellt, wie es in etwa auch durch eine mündliche Gutachtenerstattung durch den Sachverständigen hätte erfolgen können.
Bei der ersten Sichtung entspricht dieser Bericht weitestgehend meiner Einschätzung, dass hier alle drei Institutionen (LoPa, Stadt Duisburg, Polizei) ursächliche Faktoren egsetzt haben.
Im Fazit dazu heißt es (Hervorhebung ergänzt):
Zusammenfassend ist unter Berücksichtigung der dargestellten Verdachtslage hinreichend wahrscheinlich, dass sich die tragischen Ereignisse am 24. Juli 2010 durch eine unkoordinierte Steuerung von Personenströmen in einem Veranstaltungsraum, der für das Veranstaltungskonzept und für die erwarteten und auch die tatsächlichen Besucherströme im Zu- und Abfluss zur und von der Eventfläche nicht geeignet gewesen und dessen Nichteignung im Vorfeld der Veranstaltung von keiner der an der Planung und Durchführung beteiligten Personen und Institutionen erkannt worden sein dürfte, verursacht worden sein dürften. Unmittelbar dürfte das unpassende Errichten der dritten Polizeikette zwischen den querschnittsverengenden Zaunelementen und nahe der Treppe und des Lichtmastes dazu geführt haben, dass die Drucksituati-onen und Wellenbewegungen „am Kopf“ des Rückstaus im Zufluss ins-besondere nahe der Treppe verstärkt aufgetreten sein dürften. Dabei dürfte einerseits gelten, dass aufgrund der Planungs- und Ausführungs-fehler unabhängig davon, welche Handlungen am Veranstaltungstag vorgenommen worden wären, von Beginn der Veranstaltung an Gefähr-dungen zu erwarten und Gefahren für Leib und Leben der Besucher jedenfalls nicht auszuschließen gewesen sein dürften.
Insbesondere dürfte es auch bei einem fiktiven Verlauf ohne Polizeiketten mit an Si-cherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu einer Menschenverdichtung im unteren Bereich der Rampe Ost gekommen sein. Andererseits dürfte es am Veranstaltungstag trotz der Planungs- und Ausführungsfehler auch noch Möglichkeiten für alle beteiligten Institutionen gegeben ha-ben, die tragischen Ereignisse zu verhindern. Eine koordinierte Steue-rung der Personenströme am Veranstaltungstag mit koordinierten tem-porären Maßnahmen wie temporären Schließungen der Vorsperren und/oder Vereinzelungsanlagen und/oder verstärktem Einsatz von „Pushern“ im Übergangsbereich zwischen der Rampe Ost und der Eventfläche und/oder einer temporär veränderten Floatsteuerung bis hin zu einem Abbruch des Zuflusses zum Veranstaltungsgelände bzw. zur Stadt Duisburg dürften grundsätzlich geeignet gewesen sein, die Men-schenverdichtung im unteren Bereich der Rampe Ost mit Todesfolgen und Verletzungen zu verhindern. (...)
Am Veranstaltungstag dürften mithin zahlreiche, oben aufgezeigte Fehler in der Planung, Ausführung und Umsetzung der Veranstaltung, die teilweise, nicht jedoch ausschließlich auf das Verhalten der Angeklagten zurückzuführen sein dürften, zusammengewirkt haben.
Während ich auch einigen Erwägungen des Gerichts durchaus zustimmen kann, die sich auf die Einschätzung der hypothetischen Schuld der Angeklagten beziehen, kann ich dieser Wertung des Gerichts, die Komplexität der Verursachung führe zu einer geringeren (Fahrlässigkeits-)Schuld des Einzelnen, nichts abgewinnen:
Insgesamt dürften die tragischen Ereignisse auf der Loveparade in Duisburg am 24. Juli 2010 nach derzeitigem Kenntnisstand mithin auf zahlreiche Ursachen zurückzuführen sein, die gemeinsam gewirkt und deren Ursachen und Wirkungen mehrfach miteinander korreliert haben dürften. Unterstellt, den Angeklagten könnte die ihnen vorgeworfene Tat nachgewiesen werden, wären mithin zu ihren Gunsten zahlreiche Ursachen zu berücksichtigen, die dem pflichtwidrigen schuldhaften Handeln einer Vielzahl anderer an der Planung und Durchführung der Loveparade 2010 in Duisburg Beteiligter zuzurechnen sein dürften, wenngleich selbige nach den derzeitigen Erkenntnissen den vermeintlich durch die Angeklagten in Gang gesetzten Kausalzusammenhang nicht unterbrochen haben dürften.
Im Moment bleibt bei mir eine gewisse Enttäuschung, dass dieser Prozess ohne Ergebnis zuendegeht, und ein Unverständnis, dass dies ohne die Einführung des Sachverständigengutachtens geschieht.
Update 7.5.2020:
Es geht im Strafrecht nicht darum, politische oder moralische Verantwortung zu klären. Dass diese bei Herrn Sauerland und Herrn Schaller lag, mögen die beiden (reichlich spät, aber immerhin) irgendwann eingesehen haben. Aber dass ein Firmenchef nicht selbst (in eigener Person) eine Veranstaltung seiner Firma plant, und ein Oberbürgermeister nicht selbst Pläne einer von ihm gewünschten Veranstaltung technisch prüft, das sollte doch jedem klar sein.
Ein Speditionschef ist ja auch nur sehr begrenzt verantwortlich zu machen für die Tötung eines Radfahrers, der von einem LKW beim Abbiegen erfasst wird, weil der Fahrer nicht in den Spiegel geschaut hat, sondern auf sein Handy. Bei den Chefs hätte möglicherweise eine Fahrlässigkeit in der Auswahl ungeeigneter Personen gelegen oder, wenn sie selbst bestimmte todesursächliche Vorgehensweisen selbstherrlich durchgedrückt hätten. Aber für letzteres fehlten tatsächliche Anhaltspunkte und offensichtlich waren weder die städtisch zuständigen noch die firmenintern beauftragten (und bezahlten) Kräfte, die diese wichtigen Aufgaben erledigen sollten, ungeeignet. Im Gegenteil: Teilweise lag große Erfahrung vor in der Veranstaltungsplanung und -durchführung sowie Entscheidungsgewalt über viele heikle Punkte, die jetzt (und auch schon seit September 2010!) als Ursachen in Betracht zu ziehen sind. Ebenso wie Autofahrer für kleinste Fahrfehler auch strafrechtlich haften, wenn diese unfallbedingt (meist mit komplexen Ursachen und hohem Zufallsanteil) zu Toten oder Verletzten führen, lag hier m.E. keine durchgreifende Schuldminderung wegen "Multikausalität" vor. Im Gegenteil: Die Angeklagten haben als Experten (in Arbeitsteilung) lange Zeit gehabt, sich über die Durchführbarkeit ihrer Planung Gedanken zu machen und haben hier schlicht versagt: Sie haben eine Veranstaltung geplant und genehmigt/genehmigen lassen, bei der das normale Eingangsmanagement (ohne dass Unwetter, Feuer oder Terroranschlag o.ä. vorlag) dazu führte, dass 21 Menschen in einer Massenturbulenz zerquetscht wurden.
Und deshalb halte ich es für eine große Niederlage der NRW-Justiz, dieses Versagen nicht innerhalb von zehn Jahren zur Urteilsreife gebracht zu haben. Ich erkenne allerdings an, dass das sehr lange Verfahren auch eine ziemlich große Belastung für die Angeklagten mit sich brachte, was m.E. auch zutreffend bei der Strafzumessung zu berücksichtigen gewesen wäre.
Aber bei diesen für die Planung und Durchführung verantwortlichen Personen des mittleren Managements zu behaupten, man habe hier nur kleinere Angestellte angeklagt, weil man sich an die Chefs nicht herantraute o.ä., ist m.E. verfehlt. Da stimme ich im Übrigen auch nicht mit einigen der Nebenkläger und deren Vertreter überein, die gern Herrn Sauerland und Herrn Schaller auf der Anklagebank gesehen hätten. Zudem: Natürlich sind im Veranstaltungsmanagement Sorgfaltspflichten (geschriebene und ungeschriebene Regeln der beruflichen "Kunst") einzuhalten, die die "im Verkehr erforderliche Sorgfalt" definieren. Wer eine entsprechende Ausbildung genossen hat, der wird damit vertraut gemacht. Dass solche Sorgfaltspflichten in gesetzlichen Vorschriften niedergelegt sind, ist bei Fahrlässigkeitsstraftaten außerhalb des Straßenverkehrs der Ausnahmefall. Welche Regeln "gelten", müssen Staatsanwaltschaft und Gericht ebenfalls feststellen und dann evtl. Verstöße klären. Das ist aber keine Situation, die in der juristischen Aufarbeitung ungewöhnlich wäre oder generell zur Schuldminderung führt.
Ich habe mich über die WDR-Doku "Loveparade vor Gericht", die am Abend des letzten Verhandlungstages sogleich ausgestrahlt wurde, ziemlich geärgert, nicht weil die Dokumentaristen eine andere Meinung vertreten hätten als ich, sondern, weil sie über die wesentlichen Konflikte im Prozess Zuckerguß gegossen haben, statt diese herauszustellen. Aber ich würde natürlich gern auch Ihre Meinung dazu lesen - der Film ist in der ARD-Mediathek präsent.
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Links zu früheren Beiträgen und Diskussionen hier im Beck-Blog und weiteren wichtigen Informationen, die im Netz verfügbar sind:
November 2019: Loveparade 2010 - doch keine Verjährung im Juli 2020 (ca. 3000 Abrufe)
Februar 2019: Loveparade 2010 - das letzte Kapitel des Verfahrens hat begonnen (ca. 8000 Abrufe)
Januar 2019: Loveparade 2010 - "The Art of the Deal" in der Hauptverhandlung? (ca. 10500 Abrufe)
Juli 2018: Loveparade 2010 in Duisburg - acht Jahre später (11 Kommentare, ca. 5100 Aufrufe)
Dezember 2017: Loveparade 2010 - die Hauptverhandlung beginnt (69 Kommentare, ca. 12800 Aufrufe)
Juli 2015: Fünf Jahre und kein Ende – die Strafverfolgung im Fall Loveparade 2010 (98 Kommentare, ca. 13500 Abrufe)
Februar 2015: Was wird aus dem Prozess? (72 Kommentare, ca. 10600 Aufrufe)
August 2014: Zweifel am Gutachten (50 Kommentare, ca. 12000 Abrufe)
Februar 2014: Anklageerhebung (50 Kommentare, ca. 18300 Abrufe)
Mai 2013: Gutachten aus England (130 Kommentare, ca. 19100 Abrufe)
Juli 2012: Ermittlungen dauern an (68 Kommentare, ca. 16500 Abrufe)
Dezember 2011: Kommt es 2012 zur Anklage? (169 Kommentare, ca. 34000 Abrufe)
Mai 2011: Neue Erkenntnisse? (1100 Kommentare, ca. 45000 Abrufe)
Dezember 2010: Fünf Monate danach (537 Kommentare, ca. 31900 Abrufe)
September 2010: Im Internet weitgehend aufgeklärt (788 Kommentare, ca. 51200 Abrufe)
Ergänzend:
Link zur großen Dokumentationsseite im Netz:
speziell: Illustrierter Zeitstrahl
Link zur Seite von Lothar Evers: DocuNews Loveparade Duisburg 2010
Link zur Prezi-Präsentation von Jolie van der Klis (engl.)
Weitere Links:
Artikelsammlung zur Loveparade auf LTO
Große Anfrage der FDP-Fraktion im Landtag NRW
Kurzgutachten von Keith Still (engl. Original)
Kurzgutachten von Keith Still (deutsch übersetzt)
Analyse von Dirk Helbing und Pratik Mukerji (engl. Original)
Multiperspektiven-Video von Jolie / September 2014 (youtube)
Interview (Januar 2013) mit Julius Reiter, dem Rechtsanwalt, der eine ganze Reihe von Opfern vertritt.
Blog des WDR zur Hauptverhandlung (Berichte über jeden Prozesstag)