Don't mess with the BVerfG!
Gespeichert von Dr. iur. Fiete Kalscheuer am
Sven Giegold hat einen Brief geschrieben. Dagegen ist grundsätzlich nichts einzuwenden. Briefe schreiben darf man; Briefe schreiben ist schön. Sven Giegold ist Mitglied der Grünen/EFA-Fraktion im Europaparlament und er hat seinen Brief an die EU-Kommissionspräsidentin, Ursula von der Leyen, gerichtet. Hier aber beginnt das Problem. Der Brief handelt im Wesentlichen vom EZB-Urteil des Zweiten Senats des BVerfG vom 05.05.2020. Die EU-Kommission sei - so Giegold in dem Brief - als Hüterin der Verträge zuerst gefordert:
Sie muss aufgrund des Urteils ein Vertragsverletzungsverfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland einleiten.
Ursula von der Leyen nimmt den Ball Giegolds dankbar auf und antwortet innerhalb von zwei Stunden wie folgt:
EU-Recht hat Vorrang vor nationalem Recht, und selbstverständlich sind die Urteile des Europäischen Gerichtshofs für alle nationalen Gerichte bindend. Das letzte Wort zum EU-Recht hat immer der Europäische Gerichtshof in Luxemburg. Ich nehme diese Sache sehr ernst. Die Kommission ist jetzt dabei, das mehr als 100 Seiten lange Urteil des deutschen Bundesverfassungsgerichts im Detail zu analysieren. Auf der Basis dieser Erkenntnisse prüfen wir mögliche nächste Schritte bis hin zu einem Vertragsverletzungsverfahren.
Es stellt sich die Frage, was ein Vertragsverletzungsverfahren vorliegend bezwecken soll. Klar: Ein Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 258 AEUV dient der Feststellung von Verletzungen der Verträge durch die Mitgliedstaaten. Dies erscheint zunächst unproblematisch. Das Verfahren läuft dabei in mehreren Schritten ab, auf die hier im Einzelnen nicht eingegangen werden muss. Ausreichend ist es, sich im Wesentlichen mit dem Wortlaut des Art. 258 AEUV zu begnügen:
Hat nach Auffassung der Kommission ein Mitgliedstaat gegen eine Verpflichtung aus den Verträgen verstoßen, so gibt sie eine mit Gründen versehene Stellungnahme hierzu ab; sie hat dem Staat zuvor Gelegenheit zur Äußerung zu geben.
Kommt der Staat dieser Stellungnahme innerhalb der von der Kommission gesetzten Frist nicht nach, so kann die Kommission den Gerichtshof der Europäischen Union anrufen.
Bei der in Art. 258 AEUV erwähnten "Stellungnahme" der EU-Kommission handelt es sich - so die Kommission auf ihrer Homepage - "um eine förmliche Aufforderung, Übereinstimmung mit dem EU-Recht herzustellen."
Das Problem wird hierbei hinreichend deutlich: Wie soll Deutschland im vorliegenden Falle, in dem ein Urteil des BVerfG (vermeintlich) gegen EU-Recht verstößt, Übereinstimmung mit dem EU-Recht herstellen? Das BVerfG stützt sich im genannten Urteil auf einen Ultra-vires-Verstoß und die Befugnis zur Überprüfung, ob sich die EU-Organe innerhalb ihrer Kompetenzen bewegen, leitet das BVerfG aus dem Grundgesetz selbst ab. Das Argument lautet verkürzt: Die EU ist kein Staat; die Kompetenz-Kompetenz liegt weiterhin bei den Mitgliedstaaten und die grundgesetzlich geforderte Eigenstaatlichkeit Deutschlands wäre gefährdet, wenn sich die EU Kompetenzen anmaßt, die ihr nicht zustehen. Eine nationale Gesetzesänderung erscheint vor diesem Hintergrund nicht möglich, um den (vermeintlichen) EU-Rechtsverstoß abzustellen. Da die Eigenstaatlichkeit Deutschlands Teil der Ewigkeitsgarantie in Art. 79 Abs. 3 GG ist, besteht noch nicht einmal die Möglichkeit zu einer Grundgesetzänderung. Unter dem Grundgesetz wird es bei der Befugnis des BVerfG zur Ultra-vires-Kontrolle bleiben.
Es bestünde für Deutschland somit nur die Möglichkeit, auf das BVerfG selbst einzuwirken, um - auf welche Art und Weise auch immer - eine Urteilsänderung herbeizuführen. Dies aber würde offenkundig die Unabhängigkeit der Justiz gefährden. Die Unabhängigkeit der Justiz ist ein tragender Pfeiler des Rechtsstaatsprinzips, das wiederum zu den Grundprinzipien der EU gehört (vgl. Art. 2 EUV). Wie man es also dreht und wendet: Ein Vertragsverletzungsverfahren hat hinsichtlich des EZB-Urteils des BVerfG keinen Sinn.