BAG: Diskriminierung durch pauschales Kopftuchverbot für Lehrerinnen
Gespeichert von Prof. Dr. Markus Stoffels am
Die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen Arbeitnehmerinnen untersagt werden darf, im Dienst ein Kopftuch als religiöses Symbol zu tragen, beschäftigt die Gerichte seit geraumer Zeit. Die Anzahl der Entscheidungen ist mittlerweile beträchtlich. Der jetzt vom BAG (Urteil vom 27. August 2020 - 8 AZR 62/19 – PM 28/20) entschiedene Fall betrifft den öffentlichen Dienst im Land Berlin. Hier gilt in Berlin seit langem ein strenges Neutralitätsgebot. Dieses ist im Neutralitätsgesetz (Berlin) verankert. Der hier interessierende § 2 lautet wie folgt: „Lehrkräfte und andere Beschäftigte mit pädagogischem Auftrag in den öffentlichen Schulen nach dem Schulgesetz dürfen innerhalb des Dienstes keine sichtbaren religiösen oder weltanschaulichen Symbole, die für die Betrachterin oder den Betrachter eine Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft demonstrieren, und keine auffallenden religiös oder weltanschaulich geprägten Kleidungsstücke tragen. Dies gilt nicht für die Erteilung von Religions- und Weltanschauungsunterricht.
Im Streitfall geht es um eine Diplom-Informatikerin, die sich als gläubige Muslima bezeichnet und als Ausdruck ihrer Glaubensüberzeugung ein Kopftuch trägt. Sie bewarb sich beim beklagten Land Berlin als Lehrerin in den Fächern Informatik und Mathematik in der Integrierten Sekundarschule (ISS), dem Gymnasium oder der Beruflichen Schule. Das beklagte Land lud sie zu einem Bewerbungsgespräch ein. Im Anschluss an dieses Gespräch, bei dem die Klägerin ein Kopftuch trug, sprach sie ein Mitarbeiter der Zentralen Bewerbungsstelle auf die Rechtslage nach dem sog. Berliner Neutralitätsgesetz an. Die Klägerin erklärte daraufhin, sie werde das Kopftuch auch im Unterricht nicht ablegen. Nachdem ihre Bewerbung erfolglos geblieben war, nahm die Klägerin das beklagte Land auf Zahlung einer Entschädigung nach dem AGG in Anspruch.
Das BAG gab ihr jetzt in letzter Instanz recht und bestätigte damit eine Entscheidung der Vorinstanz, die der Muslimin gut 5.000,- Euro zugesprochen hatte. Die Klägerin könne nach § 15 Abs. 2 AGG wegen eines Verstoßes gegen das Benachteiligungsverbot des AGG die Zahlung einer Entschädigung verlangen. Die Klägerin habe als erfolglose Bewerberin eine unmittelbare Benachteiligung iSv. § 3 Abs. 1 AGG erfahren. Der Umstand, dass ein Mitarbeiter der Zentralen Bewerbungsstelle die Klägerin im Anschluss an das Bewerbungsgespräch auf die Rechtslage nach dem sog. Berliner Neutralitätsgesetz angesprochen und die Klägerin daraufhin erklärt habe, sie werde das Kopftuch auch im Unterricht nicht ablegen, begründe die Vermutung, dass die Klägerin wegen der Religion benachteiligt worden ist. Diese Vermutung habe das beklagte Land nicht widerlegt. Die Benachteiligung der Klägerin sei nicht nach § 8 Abs. 1 AGG gerechtfertigt. Das beklagte Land könne sich insoweit nicht mit Erfolg auf die in § 2 Berliner Neutralitätsgesetz getroffene Regelung berufen, Nach der Rechtsprechung des BVerfG (gemeint sind insbesondere die Entscheidungen BVerfG, Urteil vom 24. 9. 2003 - 2 BvR 1436/02, NJW 2003, 3111 und insbesondere BVerfG, Beschluss vom 27.1.2015 – 1 BvR 471/10, 1 BvR 1181/10, NJW 2015, 1359), an die der Senat nach § 31 Abs. 1 BVerfGG gebunden sei, führe eine Regelung, die - wie § 2 Berliner Neutralitätsgesetz - das Tragen eines sog. islamischen Kopftuchs durch eine Lehrkraft im Dienst ohne Weiteres, dh. schon wegen der bloß abstrakten Eignung zur Begründung einer Gefahr für den Schulfrieden oder die staatliche Neutralität in einer öffentlichen bekenntnisoffenen Gemeinschaftsschule verbiete, zu einem unverhältnismäßigen Eingriff in die Religionsfreiheit nach Art. 4 GG, sofern das Tragen des Kopftuchs - wie hier im Fall der Klägerin - nachvollziehbar auf ein als verpflichtend verstandenes religiöses Gebot zurückzuführen sei. § 2 Berliner Neutralitätsgesetz sei in diesen Fällen daher verfassungskonform dahin auszulegen, dass das Verbot des Tragens eines sog. islamischen Kopftuchs nur im Fall einer konkreten Gefahr für den Schulfrieden oder die staatliche Neutralität gilt. Eine solche konkrete Gefahr für diese Schutzgüter habe das beklagte Land indes nicht dargetan. Aus den Vorgaben von Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78/EG, die der nationale Gesetzgeber mit § 8 Abs. 1 AGG in das nationale Recht umgesetzt habe, und aus den in Art. 10 und Art. 24 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union getroffenen Regelungen ergäbe sich für das vorliegende Verfahren nichts Abweichendes. Den Bestimmungen in §§ 2 bis 4 Berliner Neutralitätsgesetz fehle es bereits an der unionsrechtlich erforderlichen Kohärenz. Mit den Ausnahmeregelungen in den §§ 3 und 4 Berliner Neutralitätsgesetz stelle der Berliner Gesetzgeber sein dem § 2 Berliner Neutralitätsgesetz zugrundeliegendes Regelungskonzept selbst in Frage. Die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts über die Höhe der der Klägerin zustehenden Entschädigung hielt im Ergebnis einer revisionsrechtlichen Kontrolle stand.