Wirksame Klageeerhebung ohne Anschrift?
Gespeichert von Prof. Dr. Christian Rolfs am
Eine Kündigungsschutzklage kann die Frist des § 4 Satz 1 KSchG wahren, obwohl der Arbeitnehmer in der Klageschrift entgegen § 253 Abs. 4 iVm. § 130 Nr. 1 ZPO seinen Wohnort nicht angibt.
Das hat das BAG entschieden.
Dem schwerbehinderten Arbeitnehmer war außerordentlich, hilfsweise ordentlich gekündigt worden. Zuvor war er in einem Strafverfahren zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden und es war Haftbefehl gegen ihn erlassen worden. In seiner Kündigungsschutzklage gab er eine Anschrift in W an, unter der er aber nicht wohnhaft war; vielmehr konnten dort Postfächer angemietet werden. Allerdings hatte der Kläger seinen Postfachvertrag bereits gekündigt und dem Betreiber untersagt, weiterhin Post für ihn anzunehmen.
Das BAG hält die Klage gleichwohl für wirksam erhoben:
Weder der Zivilprozessordnung noch dem Wortlaut von § 4 Satz 1 KSchG ist zu entnehmen, dass lediglich eine von vornherein in allen Punkten dem Prozessrecht genügende Klageerhebung die Klagefrist wahrt (…). Vielmehr können auch unzulässige Klagen zur Fristwahrung ausreichen (…). Wann dies der Fall ist, bestimmt sich nach § 253 ZPO und § 4 Satz 1 KSchG (…). Eine wirksame Klageerhebung liegt vor, wenn die Klage die sich aus § 253 ZPO ergebenden Mindestvoraussetzungen erfüllt (…). Den Anforderungen von § 4 Satz 1 KSchG ist genügt, wenn die (wirksame) Klage dem Arbeitgeber fristgerecht Klarheit verschafft, ob der Arbeitnehmer eine bestimmte Kündigung hinnimmt oder ihre Unwirksamkeit gerichtlich geltend machen will. Erfüllt das prozessuale Vorgehen des Arbeitnehmers diesen Zweck, soll er nicht aus formalen Gründen den Kündigungsschutz verlieren (…). Danach ist die Dreiwochenfrist, ohne dass es auf eine rückwirkende Heilung gemäß § 295 ZPO (…) oder eine nachträgliche Klagezulassung nach § 5 KSchG ankäme, von vornherein gewahrt, wenn die rechtzeitig eingereichte Klageschrift von einer postulationsfähigen Person unterzeichnet ist, die sie – als solche und nicht als bloßen Entwurf – verantwortet (§ 253 Abs. 4 iVm. § 130 Nr. 6 ZPO), und aus ihr die Parteien (§ 253 Abs. 2 Nr. 1 ZPO), die angefochtene Kündigung (§ 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO) sowie der Wille des Arbeitnehmers, die Unwirksamkeit dieser Kündigung gerichtlich feststellen zu lassen, ersichtlich sind (…). Demgegenüber rechnen die in § 253 Abs. 4 iVm. § 130 Nr. 1 bis 5 ZPO bestimmten Angaben weder zu den Mindestanforderungen an eine wirksame Klageerhebung (…) noch werden sie von § 4 Satz 1 KSchG verlangt (…).
BAG, Urt. vom 1.10.2020 - 2 AZR 247/20, BeckRS 2020, 33443