Der Satzbau, beglaubigte Übersetzungen und die sechs Plagen
Gespeichert von Peter Winslow am
Was ihre genauen Worte waren, weiß ich nicht mehr genau. Fast zwanzig Jahre liegen zwischen damals und heute. Heute ist mir aber der Sinn ihrer Worte genauso klar wie damals. Ich war Austauschstudent in Freiburg im Breisgau und lernte noch Deutsch. Sie kam ins Klassenzimmer, legte ihre Sachen auf Pult und Boden und grinste uns alle an. Etwa ungefähr sagte dann die Deutschlehrerin laut und deutlich und ganz im Ernst: »Ich zu Supermarkt gehen mogen«. Etwa ungefähr setzte sie dann fort: »So können Sie sprechen. Alle verstehen Sie. Aber niemand will mit Ihnen reden.«
Hätte es damals die AfD gegeben, hätte man vielleicht diese Worte als Vorwurf des Nicht-Integrierens von Ausländerinnen und Ausländern oder irgendeinen anderen Blödsinn der AfD aufgegriffen. Aber das waren glücklichere Zeiten. … Überhaupt machte diese Lehrerin niemals einen solchen Vorwurf und war allem Anschein nach gar nicht rechts(radikal) angehaucht. Sie meinte ihre Mahnung gut. Sie meinte einzig und allein, die Verständigung sei keine Einbahnstraße. Sie meinte, die Sprache sei nicht nur eine Frage des Sichverständlichmachens, sondern auch und vielmehr eine des menschlichen – nicht nur des deutschen – Miteinanders.
So verstand ich ihre Worte damals. So verstehe ich ihre Worte heute. Diese gehören, um mit G.K. Chesterton zu sprechen, zu einer der praktischsten Arten wissenswerter Wahrheiten. Sie sind paradox. Sie zeigen, dass der Satzbau für die menschliche und sprachliche Zielführung zwar ohne Belang, aber das A und O ist. Sie mahnen zur Vorsicht, nicht jede verständliche Mitteilung mit einem Sprachgebrauch oder der Teilnahme am menschlichen Miteinander gleichzusetzen. Oder etwas anders gesagt: Sie zeigen, dass das menschliche Miteinander erst mit dem Satzbau beginnt.
»Ein Satz, der nicht klar ist, ist nicht Deutsch« soll ein großer Dichter gesagt haben. Meine Deutschlehrerin hat aber bewiesen: Ein Satz, der klar ist, ist trotzdem Deutsch. Entsprechendes gilt für jeden Satz jeder Sprache. Und wenn deutsche Anwältinnen und Anwälte auf Englisch schreiben, so bedienen sie sich ab und an nicht nur englischer Wörter, sondern auch des deutschen oder eines anderen Satzbaus, der für die englische Sprache genauso unrichtig ist wie der deutsche. Sie schreiben zweifelsohne Englisch. Sie wollen sich nur verständlich ausdrücken, beharren auf das eigene Verständnis und verkennen dabei, dass jedes Rechtsverständnis das menschliche Miteinader voraussetzt. »Am unverständlichsten reden die Leute daher«, schrieb Karl Kraus einmal, »denen die Sprache zu nichts anderm dient, als sich verständlich zu machen«.* Das ist der Fehler. Und dieser Fehler gehört zu den am meisten begangenen Sprachsünden, die eine so fruchtbare Quelle deutscher Rechtsstreitigkeiten bilden: »Oft ahnt man nur, was denn die Parteien wirklich sagen wollten«. Zwar ist manche Sünde verständlich, manche Ahnung von Nutzen. Aber was Parteien wirklich sagen wollten – das ist nun etwas vollkommen anderes.
Bei der juristischen Sprache ist dieser Fehler also komplizierter und verheerender als bei der gewöhnlichen. Wie bei der gewöhnlichen stehen Wörter und Begriffe der juristischen Sprache nicht nur für Sachen wie Tische und Stühle und Supermärkte. Sie stehen auch für Verfahren und weitere Tätigkeiten. Aber wenn deutsche Anwältinnen und Anwälte Sätze wie »Of first one come and of last one leave« und »The patent buys per foot for one euro« schreiben, so ist der Satzbau für die menschliche und sprachliche Zielführung nicht ohne Belang.
Ich sage nicht, dass ich öfters solche Sätze lesen muss oder musste. Ich sage nur, dass die besten Fehler von anderen stammen, die lehrreichsten der Fantasie. Nehmen wir also an, ein deutscher Anwalt hätte lauter Sätze obiger Art geschrieben. Nehmen wir ferner an, diese Sätze dienten weder dem menschlichen noch dem vertraglichen Miteinander und fuhren zum Streitverfahren und sind nun im Rahmen eines Gerichtsverfahrens beglaubigt ins Deutsche zu übersetzen. In so einem Fall wirkt der Satzbau Wunder. Der Text kann sonst so zauberhaft sein. Der Satzbau wird zum Maßstab und verschlingt alles andere, wie Aarons Stab. Und wie Aarons Stab ist der Satzbau oft nur ein Vorspiel der sechs Plagen, die Übersetzerinnen und Übersetzer befallen können.
Erstens wird jede ernste Absicht in Unfug verwandelt. Man will ziehen, weiterlesen, weiterübersetzen. Aber der Text wird, wenn man Glück hat, für sieben Wörter, sieben Sätze oder sieben Absätze ungenießbar; wenn man keins hat, für immer und ewig. Zweitens wimmelt es von Zweifeln. Diese kriechen aus den tiefsten Ecken des Bewusstseins herauf, infizieren jeden Gedanken und begleiten eine und einen bis tief in die weitere Lektüre hinein. Drittens kommen die Mücken, die jeweils in einen Elefanten verwandelt werden. Jede Kleinigkeit in und am Text nervt unverhältnismäßig doll und trampelt jede Geduld – trotz bestem Willen. Viertens kommt das Stehen auf Hauen und Stechen. Es folgt eine harte und oft würdelose Auseinandersetzung mit Ahnungen, Möglichkeiten und Vermutungen. Fünftens wird eine so dicke Finsternis über den Text, dass man zwar sie greifen, aber ihn nicht begreifen kann. Mindestens für drei Wörter, drei Sätze oder drei Absätze kann man von der Stelle nicht weggehen. Man tappt nur im Dunkeln. Sechstens wandelt sich der Satzbau in einen Würgeengel, der den Tod aller Lust zum Weiterlesen und zum Weiterübersetzen mit sich bringt.
Diesen sechs Plagen gegenüber müssen wir – mit »wir« meine ich »ermächtigte bzw. vereidigte Übersetzerinnen und Übersetzer« – eine Art stoischer Haltung einnehmen. We have to gather our wits. Wir müssen allen Erstens und ruhigen Gewissens Sätze wie die oben angeführten etwa wie folgt ins Deutsche übersetzen können: »Vom ersten kommen und vom letzen gehen«, »Das Patent kauft pro Fuß für einen Euro«. Wir dürfen nicht zulassen, dass wir nur deswegen verdächtigt werden, die deutsche Sprache nicht zu beherrschen, weil eine bestimmte Anwältin oder ein bestimmter Anwalt die englische Sprache nicht beherrscht. Auch brauchen wir keine Angst vor so einem Verdacht zu haben. Wie gute Wittgensteinianerinnen und Wittgensteinianer können wir ruhig an Unsinn als Mittel zur Einsicht glauben. Unmittelbar durch den Unsinn im Ausgangstext und unmittelbar durch unparteiliche Ausführungen können wir das Gericht zur ganzheitlichen Einsicht in streitgegenständliche Wortlaute verhelfen. Wir brauchen nur Anmerkungen zu verfassen, in denen der sich aus dem Satzbau ergebende Unsinn auf sachlichster, sanftester und sparsamster Weise dargelegt wird. Auf klarster, kohärentester und knappster Weise müssen wir also dem Verdacht entgegenwirken, fehlerhaft übersetzt zu haben.
Ich weiß nicht, wie man am besten erläutern könnte, wie eine Anmerkung im obigen Sinne aussieht. Vielleicht ist ein Beispiel am einfachsten. Nehmen wir den Satz »The patent buys per foot for one euro«. Er verkörpert einige Probleme, die erfahrungsgemäß bei englischsprachigen Ausgangstexten auftreten können. Wie der obige Satz »Of first one come and of last one leave« ist auch er fiktiv, rein erfunden. Ob Sie meinen, so schreibe kein Mensch, nicht mal auf Englisch, ist für das nachstehende Beispiel nicht von Belang. Von Belang ist nur, dass dieses Beispiel einige Problemstellungen veranschaulicht, die bei schlecht verfassten englischen Rechtstexten auftreten – und zwar in Wirklichkeit: unübliche Wortstellung; problematische Subjektwahl; problematische Verbwahl; uneinheitliche Begriffsunterscheidungen; die reine Anzahl von Schwierigkeiten, die eine selbstverständliche Auslegung im Einzelfall in Frage stellen; und so weiter.
Beispiel einer Anmerkung
Anm. d. Übers.: Der englische Ausgangssatz lautet: »The patent buys per foot for one euro«. Dieser Satz ist aus zwei Gründen schwierig und wurde daher wortwörtlich mit »Das Patent kauft pro Fuß für einen Euro« übersetzt. Erstens ist der Satzbau nicht englisch. Grammatikalisch hätte man die Wörter »per foot« nach den Wörtern »one euro« erwartet, etwa: »one euro per foot«. Allem Anschein nach stellt die unübliche Wortstellung weder Anastrophe noch eine andere rhetorische Stilfigur dar. Zweitens geht man von einer unglücklichen Subjektwahl bzw. von einer unglücklichen Verbwahl aus. Was die Verbwahl betrifft: Wohlwollend ist vielleicht »sich verkaufen« oder »kosten« gemeint, etwa: »Das Patent verkauft sich für einen Euro pro Fuß« bzw. »Das Patent kostet einen Euro pro Fuß«. Was die Subjektwahl betrifft: Man weiß nicht ohne Weiteres, was mit »Patent« gemeint ist. Wohlwollend ist vielleicht die Erfindung des Patents gemeint. Ob die Erfindung tatsächlich gemeint ist, kann aber aus Sicht des Übersetzers nicht aufgrund dieses Textes allein entschieden werden. Ganzheitlich betrachtet gilt: Neben der unüblichen Wortstellung und neben der unglücklichen Verbwahl und neben der reinen Anzahl der im Ausgangstext enthaltenen sprachlichen Schwierigkeiten und neben dem Umstand, dass an anderen Stellen des Ausgangstexts zwischen dem »Patent« und der »Erfindung« sprachlich unterschieden wird, werden diese zwei Begriffe an keiner Stelle im Ausgangstext als Synonyme verwendet. Somit ist unklar, ob diese an dieser Stelle als Synonyme zu verstehen wären. —Der Sinn müsste sich also aus anderen Unterlagen oder anderen Umständen ergeben. Am scheinbar buchstäblichen Sinn des Satzes zu haften, hilft wohl auch nicht weiter. Denn dieser wäre etwa wie folgt zu verstehen: Das Patent besteht aus acht A4-Seiten. Das entspricht 237.60 cm (= 8 Seiten × 29,7 cm), was rd. 7,80 Fuß entspricht, oder aber 168 cm (= 8 Seiten × 21 cm), was rd. 5,5 Fuß entspricht. Somit läge der Preis für das Patent bei rd. 7,80 EUR bzw. bei rd. 5,50 EUR, soweit die Fußfeststellung des Patents nach Höhe bzw. nach Breite (der A4-Seiten) zu berechnen wäre.
Endnote
* Seite 66, Karl Kraus. Sprüche und Widersprüche. In Aphorismen, hrsg. von Christian Wagenknecht. 7–178. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1986.