AG Weimar: Kontaktverbot als Maßnahme gegen die Verbreitung des COVID19-Virus ist verfassungswidrig
Gespeichert von Prof. Dr. Henning Ernst Müller am
Mit dem Urteil AG Weimar, Urteil vom 11.01.2021 - 6 OWi - 523 Js 202518/20
wurde der Teilnehmer an einer Geburtstagsfeier in Thüringen vom Vorwurf einer Ordnungswidrigkeit freigesprochen, denn das aufgrund der Infektionsschutznormen ausgesprochene Kontaktverbot in Thüringen sei verfassungswidrig.
Unstreitiger Sachverhalt:
„Am 24.04.2020 hielt sich der Betroffene in den Abendstunden zusammen mit mindestens sieben weiteren Personen im Hinterhof des Hauses X-Straße 1 in W. auf, um den Geburtstag eines der Beteiligten zu feiern. Die insgesamt acht Beteiligten verteilten sich auf sieben verschiedene Haushalte. (…)
Dieses Verhalten des Betroffenen verstieß gegen § 2 Abs. 1 und § 3 Abs. 1 der Dritten Thüringer Verordnung über erforderliche Maßnahmen zur Eindämmung der Ausbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2 (3. ThürSARS-CoV-2-EindmaßnVO) vom 18.04.2020 in der Fassung vom 23.04.2020.“
1. Formell verfassungswidrig?
In einem ersten Schritt, welcher schon für sich allein entscheidungserheblich ist, argumentiert das AG:
„§ 2 Abs. 1 und § 3 Abs. 1 3. ThürSARS-CoV-2-EindmaßnVO sind aus formellen Gründen verfassungswidrig, da die tief in die Grundrechte eingreifenden Regelungen von der gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage im Infektionsschutzgesetz nicht gedeckt sind.“
Die Kompetenz des AG, selbst über die Verfassungsgemäßheit untergesetzlicher Normen zu entscheiden, wird so begründet:
„Das Gericht hatte selbst über die Verfassungsmäßigkeit der Normen zu entscheiden, weil die Vorlagepflicht gem. Art. 100 Abs. 1 GG nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (grundlegend BVerfGE 1, 184 (195ff)) nur für förmliche Gesetze des Bundes und der Länder, nicht aber für nur materielle Gesetze wie Rechtsverordnungen gilt. Über deren Vereinbarkeit mit der Verfassung hat jedes Gericht selbst zu entscheiden.“
Das AG Weimar argumentiert nun, dass es für ein allg. Kontaktverbot, sich mit mehr als einer haushaltsfremden Person zu treffen, in § 28 IfSG aF keine Rechtsgrundlage gegeben habe.
Das ist – angesichts der gesetzgeberischen Entscheidung am 18.11.2020, das InfSG insofern zu konkretisieren – nicht nur eine gut vertretbare Auffassung des AG Weimar, sondern entspricht sogar einer verbreiteten Meinung, wie das Gericht feststellt:
„Dass § 28 IfSG hinsichtlich der tiefgreifenden Grundrechtseingriffe einschließlich eines Kontaktverbots durch die verschiedenen Corona-Verordnungen der Länder jedenfalls im Grundsatz nicht den Anforderungen der Wesentlichkeitsdoktrin genügt, ist in Rechtsprechung und Literatur inzwischen weitgehend Konsens.“
Das AG argumentiert nun aber auch, die Exekutive dürfe § 28 IfSG auch nicht (vorläufig) erweiternd auslegen angesichts der Gefahr eines neuartigen, durch Atemluft verbreiteten Virus mit potentiell tödlichen Folgen. Eine Bezugnahme auf die Generalklausel, um ein Kontaktverbot als präventive Maßnahme zu verordnen, scheide aus:
„Soweit eingriffsintensive Maßnahmen, die an sich einer besonderen Regelung bedürften, unter Rückgriff auf Generalklauseln nur im Rahmen "unvorhergesehener Entwicklungen" zulässig sein sollen, ist diese Voraussetzung vorliegend nicht erfüllt.“
Weil die Exekutive nämlich schon seit 2013 über die potentiellen Gefahren einer solchen Pandemie informiert gewesen sei, könne sie sich auf eine „unvorhergesehene Entwicklung“ nicht berufen. Das ist tatsächlich ein gewichtiges Argument in der politischen Debatte um die Fehler der Exekutive bei der Pandemieprävention. Aber ob die abstrakte vormalige Bekanntheit einer bestimmten Gefährdung im Bundestag tatsächlich geeignet ist, den aktuellen (Landes-)Verordnungsgeber zu binden, daran wage ich zu zweifeln. Auch die abstrakte Gefahr von Meteoriteneinschlägen ist seit Langem bekannt, dennoch wird man rechtlich kaum argumentieren können, der Verordnungsgeber sei abschließend formell gehindert, konkrete Gefahren abzuwenden, die durch einen Meteoriteneinschlag akut entstehen.
Das Gerichts selbst meint auch, „gewichtiger“ für seine Entscheidung sei, dass am 18.04., dem Tag, als die thüringische Verordnung in Kraft getreten sei, keine epidemische Lage von nationaler Tragweite (mehr) bestanden habe, die ein Kontaktverbot legitimiert hätte.
Hierzu wiederum setzt das AG Weimar seine eigene empirische Überprüfung und Bewertung an die Stelle derjenigen der Landesregierung, der Bundesregierung und der Einschätzung des RKI , im Fazit:
„Da nach allem keine Situation bestand, die ohne einschneidende Maßnahmen zu "unvertretbaren Schutzlücken" geführt hätte, sind § 2 Abs. 1 und § 3 Abs. 1 3. ThürSARS-CoV-2-EindmaßnVO auch wenn man der Rechtsauffassung folgt, dass in einer solchen Situation ein Rückgriff auf Generalklauseln verfassungsgemäß ist, wegen Verstoßes gegen die Anforderungen der Wesentlichkeitslehre verfassungswidrig.“
Zentral ist dabei das Argument des AG, die Neuinfektionszahlen seien bereits am Tag des Inkrafttretens der betr. Regelung und sogar schon zu Beginn des Lockdowns Mitte März rückläufig gewesen.
Richtig daran ist, dass die gemessenen Neuinfektionszahlen wegen der Abhängigkeit von der Testhäufigkeit kein sicheres Anzeichen für die jeweils aktuelle Verbreitung des Virus, insbesondere im nicht getesteten Dunkelfeld, sind. Das ist dieselbe Einsicht, die schon meinen Beitrag hier im Blog veranlasste. Aber das AG Weimar macht dann denselben m. E. fehlerhaften Schritt, den auch Kuhbandner in dem vom Gericht zitierten Artikel macht (siehe schon meinen Beitrag vom 29.03. und das dortige Update vom 9.5.2020): Man kann nicht einerseits (richtig) die relative Unzuverlässigkeit der Neuinfektionszahlen konstatieren, dann aber aus denselben Zahlen das Gegenteil erschließen. Praktisch dieselben Daten werden dann aufgrund ihrer Testunsicherheit einerseits als unzuverlässig verworfen, dann aber als Beleg dafür angeführt, die Infektionslage sei zu einem bestimmten Datum (bereits) rückläufig gewesen. Ein Dunkelfeld ist ein Dunkelfeld und aus nicht repräsentativen örtlich und zeitlich wechselnd ermittelten Hellfeldzahlen allein lässt sich weder in die eine noch die andere Richtung auf die Größe und Entwicklung des Dunkelfelds schließen. Ein Trend lässt sich allenfalls dann daraus ablesen, wenn die Hellfeldzahlen auf dieselbe Art und Weise ermittelt wurden, was aber hinsichtlich der Testzahlen im Frühjahr und auch jetzt noch, nicht gegeben ist.
In der Pandemie kann man zwar im Nachhinein ermitteln, welche der vorherigen tatsächlichen Annahmen zutrafen und welche nicht, aber man kann in der gegebenen Situation nur mit denjenigen empirischen Daten und Erkenntnissen argumentieren, die den Entscheidungsbefugten zum selben Zeitpunkt zur Verfügung standen.
Es überzeugt daher nicht, wenn die eigene richterlich gewonnene Expertise aus der Auswertung der Publikationen von als skeptisch bekannten Wissenschaftlern derjenigen entgegengesetzt wird, die die Exekutive zu ihren Entscheidungen veranlasst hat. Dies gilt insbesondere, wenn der Richter die eigenen zitierten Quellen nicht ebenso kritisch würdigt wie diejenige wissenschaftliche Seite, auf die sich die Exekutive berufen hat.
Das Gericht hat hier ohnehin nur eine beschränkte Überprüfungskompetenz: Es wäre also zu fragen, ob die thüringische Exekutive, zu dem Zeitpunkt, als sie das Kontaktverbot erließ, sich NICHT von den empirischen Anhaltspunkten für eine epidemische Notlage hätte leiten lassen DÜRFEN. Nicht erheblich ist es hingegen, ob dieser Einschätzung von einigen Wissenschaftlern widersprochen wurde, noch weniger, ob diese Einschätzung HEUTE noch als richtig angesehen wird. Sofern die Exekutive sich also (vertretbar) von der wissenschaftliche Expertise leiten ließ, es bestehe eine gravierende Lage, muss die richterliche Kontrolle diese Expertise zugrunde legen und darf (Ausnahme: offenkundiger Missbrauch oder Willkür) nicht seine eigene aus gegenläufigen Publikationen gewonnene an deren Stelle setzen.
In diesem Punkt kann also der Entscheidung des AG Weimar nicht gefolgt werden.
Dennoch denke ich, dass der Freispruch im konkreten Fall durchaus vertretbar war, denn in den zwei Monaten, die der thüringischen Verordnung voraus gingen, hätte schon genügend Zeit bestanden, § 28 InfSchG so zu gestalten, wie es dann erst im November geschehen ist. Das Infektionsschutzgesetz inkl. Generalklausel war also damals (!) auch meiner Meinung nach keine hinreichende Ermächtigungsgrundlage für die Verordnung, auf der der Bußgeldbescheid beruht.
(Satz geändert aufgrund Hinweis eines Lesers, danke für den Hinweis, Diskussion unten)
2. Materiell verfassungswidrig?
Einmal einen Zipfel des Tischtuchs ergriffen, geht der Weimarer Amtsrichter nun daran, die ganze Tafel abzuräumen. Das Kontaktverbot sei nämlich nicht nur formell, sondern auch materiell verfassungswidrig. Damit wird nun unter anderem auch die jetzige Regelung des InfSchG selbst angegriffen, obwohl es dazu keinen rechtlichen Anlass gibt, denn diese Regelung galt ja noch gar nicht, als die Ordnungswidrigkeit begangen wurde. Sofern sich das (damalige) Kontaktverbot innerhalb der Ermächtigungsgrundlage des heutigen InfSchG bewegen würde, kann von materieller Verfassungswidrigkeit kaum gesprochen werden, ohne zugleich die Ermächtigungsgrundlage selbst in Zweifel zu ziehen. Diese Teile der Argumentation sind m.E. deshalb als nicht entscheidungserhebliches obiter dictum zu betrachten.
Zur angeblichen materiellen Verfassungswidrigkeit wird mit zwei Gründen argumentiert, nämlich erstens, das Kontaktverbot stelle einen Verstoß gegen die Menschenwürde Art. 1 GG dar, da es – kurz gefasst – Menschen generell als infektionsverdächtig und damit als Objekte betrachte. Ich halte diese Einschätzung des AG Weimar für unzutreffend, aber stelle dies gern einmal zur Diskussion.
Der zweite Grund, der hier angeführt wird, ist, dass ein solches Kontaktverbot materiell unverhältnismäßig sei. Auch hier werden durchaus zutreffend einige Dinge angeführt, die bei einer Abwägung zu berücksichtigen sind und möglicherweise vom Verordnungsgeber unzureichend berücksichtigt wurden/werden. Zunächst läuft die Argumentation des Amtsrichters wiederum darauf hinaus, dass zum Zeitpunkt der Verordnung des Kontaktverbots die Zahlen schon soweit rückläufig gewesen seien, dass man eine dringliche Gefährdung des Gesundheitssystems in der Frühjahrswelle bereits ausschließen konnte. Dieses Argument passt immerhin inhaltlich, sofern es sich auf die konkret zur Rede stehende Regelung bezieht. Aber das Gericht entfernt sich gegen Ende der Entscheidungsbegründung endgültig vom konkreten Verfahrensziel, indem nicht mehr nur das thüringische Kontaktverbot, sondern die staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie viel umfassender als unverhältnismäßig beurteilt werden. Dazu wird dann mit den schon landläufig bekannten Behauptungen der Coronaskeptiker argumentiert. Hier sollte man der Argumentation des AG Weimar genauso viel (oder wenig) Gewicht einräumen wie anderen weniger wissenschaftlichen bzw unwissenschaftlichen Äußerungen in dieser Debatte – es ist schlicht ein Debattenbeitrag eines Amtsrichters aus Weimar.
3. Die ganze Coronapolitik katastrophal falsch?
Sehr wenig an Überzeugungskraft bleibt übrig, wenn die Behauptungen des Gerichts schließlich in ein faktisch unangemessenes Fazit münden, das offenkundig völlig unbeeindruckt ist von der derzeitigen (Winter 2020/21) Pandemielage in Deutschland und weltweit:
„Nach dem Gesagten kann kein Zweifel daran bestehen, dass allein die Zahl der Todesfälle, die auf die Maßnahmen der Lockdown-Politik zurückzuführen sind, die Zahl der durch den Lockdown verhinderten Todesfälle um ein Vielfaches übersteigt. Schon aus diesem Grund genügen die hier zu beurteilenden Normen nicht dem Verhältnismäßigkeitsgebot. Hinzu kommen die unmittelbaren und mittelbaren Freiheitseinschränkungen, die gigantischen finanziellen Schäden, die immensen gesundheitlichen und die ideellen Schäden.“
Hiermit wird schlichtweg kontrafaktisch abgestritten , dass es die Pandemie sei, die diese Schäden potentiell oder real verursacht. Es wird ignoriert, dass Entscheidungen gerade zur Prävention getroffen werden und ihr Erfolg (Minimierung der Todesfälle) wird dann als Gegenargument ("war gar keine Pandemielage") in Anspruch genommen. Es werden weder die direkt durch die Maßnahmen verhinderten Todesfälle noch die indirekten positiven Folgen der Maßnahmen in Rechnung gestellt, noch wird geprüft, wie viele der immensen wirtschaftlichen Schäden (in einer Exportwirtschaft) gar nicht auf die konkreten thüringischen bzw. bundesdeutschen Maßnahmen zurückzuführen sind, sondern auf die weltweite Verbreitung des Virus. Und es wird eine Tatsache behauptet (vielfach erhöhte Todesfallanzahl), für die es außerhalb der Corona-Verschwörer-Szene keinen Beleg gibt. Das alles gehört m.E. nicht in ein Urteil.
(Hinweis: Im letzten Absatz stand ursprünglich "hiermit wird schlichtweg geleugnet..." Aus Gründen der Diskussionskultur habe ich "geleugnet" ersetzt durch "kontrafaktisch abgestritten", 27.01., 13.15 Uhr, sorry, dass ich das Wort "leugnen" politisch inkorrekt verwendet habe.)