Kontext und die Rhetorik
Gespeichert von Peter Winslow am
Wenn man Übersetzer:innen fragt, wie etwas zu übersetzen ist, antworten diese fast ohne Ausnahme mit einer Frage nach dem Kontext. Angesichts dieser Frage und ihrer Häufigkeit als Antwort auf Übersetzungsfragen könnte man meinen, der Kontext ist der wichtigste bestimmende Faktor beim Übersetzen. Und vielleicht stimmt das. Das stimmt sicherlich bei bestimmten Begriffen wie »Leiter« und »Leiter«, »Gesellschafter« und »Gesellschafter«. Jakobsleiter ist nicht gleich Leiter Jakob, ein Gesellschafter einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung nicht gleich ein Gesellschafter einer Kommanditgesellschaft. Betrachten wir ein weiteres Beispiel.
Wer im Rahmen einer FRAND-Diskussion den Begriff »Lizenzsucher« ins Englische übersetzen möchte, sollte wissen, dass dieser etwa im Urteil des Gerichtshofs vom 16. Juli 2015 in Rechtssache C-170/13 – Huawei Technologies/ZTE – vorkommt und dass dieses Urteil in englischer Sprache vorliegt. Man kann »applicant for the licence« gut oder schlecht finden, aber man kann weder diesen Kontext noch diesen englischen Begriff außer Acht lassen. Sich etwa an dem buchstäblichen Sinn des Begriffs zu haften, hälfe nämlich nicht weiter. Etwa »license seeker« wäre amüsant und nicht ganz ohne Begründung; man könnte argumentieren, dass sich »Lizenzsucher« orthographisch an den deutschen Begriff »Wahrheitssucher« anlehnt, wie sich der Philosoph Ludwig Wittgenstein 1934 in einem Brief an seine Schwester Helene nannte – ein Begriff, der mindestens seit den 1990igern zutreffend mit »truth-seeker« übersetzt wird.[1]
Diese fiktive Argumentation scheiterte aber an einer echten Tatsache. »License seeker« ergibt genauso viel Sinn wie »special value« als Übersetzung des Begriffs »Sonderwert« im Rahmen einer Immobilienbewertung – was man leider ab und an bei Übersetzungen von Immobilienbewertungen sieht. Wie sich »special value« nach einem besonderen oder gar sonderbaren Wert anhört, hört sich »license seeker« nach einer Person an, die nach Lizenzen sucht wie nach Schätzen. After all, a truth-seeker is someone who seeks the truth, looks for it, goes after it. Die richtige Vorgehensweise besteht also in der Berücksichtigung des Kontexts, in dem der Begriff »Lizenzsucher« vorkommt. Diese Berücksichtigung muss keine unangemessene Einschränkung der Übersetzungsmöglichkeiten zur Folge haben. Man könnte zum Beispiel die englische Entsprechung etwa eins-zu-eins übernehmen, in etwa »license applicant« leicht umschreiben, einen abweichenden Begriff finden oder sich ausdenken, diesen gefundenen oder ausgedachten Begriff dann im Rahmen einer Anmerkung in Schutz nehmen.
In solchen Fällen wie dem obigen wird viel Kontext benötigt, um einen einzigen Begriff richtig zu übersetzen. Man könnte meinen, der Kontext ist der wichtigste bestimmende Faktor beim Übersetzen. … Überhaupt scheint er hier unerlässlich, sachdienlich, weiterzuhelfen. Aber man ahnt auch eine gewisse Gefahr, die Übersetzungstätigkeit dahingehend falsch zu verstehen, dass diese lediglich in dem Übersetzen von Wörtern und Begriffen, fachlichen oder sonstigen, besteht. In Wirklichkeit besteht diese Tätigkeit nicht darin. Sie besteht in der Umsetzung erforderlichen Fachwissens, das nicht allein in fachlichen oder sonstigen Entsprechungen ausgangs- und zieltextlicher Wörter und Begriffe besteht. Dieses Fachwissen besteht unter anderem in einem Können, das gegenständliche Fahrwasser sicher zu navigieren, und dient – etwas überspitzt ausgedrückt – der Meidung amüsanter Scheintiefen (wie »special value«) und sprachlicher Unglücke.
Zu diesen Unglücken gehört die paradoxe Übersetzung. Beim Übersetzen wird alles richtig gemacht. Der Kontext wird berücksichtigt. Die Übersetzung erfüllt die gängigen Kriterien der Richtigkeit und Vollständigkeit. Und die Übersetzung ist trotzdem unzutreffend. —Führen wir ein Beispiel vor Augen, einen Aphorismus von Karl Kraus:
»Am unverständlichsten reden die Leute daher, denen die Sprache zu nichts anderem dient, als sich verständlich zu machen«.[2]
Dieser Aphorismus ist in Sprüche und Widersprüche enthalten, einem Sammelband von Aphorismen, deren Löwenanteil Karl Kraus in seiner Zeitschrift Die Fackel über mehrere Jahre veröffentlicht hat, und er gehört zu einer Reihe von Aphorismen, die Menschen, Dummheit und unverständliche Situationen behandelt. Nun schauen wir uns die englische Übersetzung dieses Aphorismus an, die in Herrn Jonathan McVitys Übersetzung des oben genannten Sammelbands enthalten ist (nebenbei sei angemerkt, die Übersetzung des Titels ist beneidenswert clever: Dicta and Contradicta). Seine Übersetzung lautet:
»The most incomprehensible babblers are the people who only use language to make themselves clear«.[3]
Herr McVity hat alles richtig gemacht. Er hat den Gesamtkontext dieses Aphorismus berücksichtigt – er hat den ganzen Sammelband übersetzt. Seine Übersetzung erfüllt die gängigen Kriterien. Sie ist richtig, sie ist vollständig. Höchstens könnte man beanstanden, dass das Wort »only« an unglücklicher Stelle steht – besser, könnte man meinen, wäre: »the people who use language only to make«. Oder man könnte fragen, ob »babblers« als Übersetzung von »Leute daherreden« eine künstlerische Freiheit darstellt, die lieber und besser gefesselt bliebe. Oder man könnte fragen, ob Herr McVity dem kraus’chen Gedanken »der Sprache dienen« wirklich gerecht wird. Das alles läuft über Meinungsverschiedenheiten hinaus, die nichts zu einer wohlwollenden Bewertung von Herrn McVitys Übersetzung beitragen. Seine Übersetzung ist gut. Punkt.
Nichtsdestotrotz ist Herr McVitys Übersetzung paradox. Sie ist gut, aber unzutreffend. Kraus’ Aphorismus enthält eine Mischung zweier rhetorischer Figuren. Grob gesagt sind diese (1) Symploke, die Wiederholung des gleichen Worts oder der gleichen Wortgruppe am Anfang und am Ende eines Satzes oder mehrerer Sätze, und (2) Polyptoton, die Wiederholung eines Wortstamms mit Abwandlung. Sprich: Der Wortstamm »verständlich« steht am Anfang und am Ende des Aphorismus; er wird mit Abwandlung wiederholt: »unverständlichsten« und »verständlich«. Für Kraus dienen diese Figuren aber nicht der Befriedigung eines ästhetischen Bedürfnisses.
Für Kraus dienen diese Figuren der Gestaltung und – um einen furchtbaren Ausdruck zu verwenden – der Mitteilung eines Inhalts. Man könnte Aufsätze zur Bedeutung dieses Aphorismus schreiben. In jedem Aufsatz wäre festzuhalten, dass »unverständlich« und »verständlich« Antonyme sind, Widersprüche, Gegensätze, und dass genau dieser Umstand im Aphorismus bildlich widergespiegelt wird. Die Wörter »unverständlichsten«und »verständlich« stehen an sich entgegengesetzten Enden des Satzes. In diesem Punkt unterscheidet Kraus nicht zwischen Gestaltung und Mitteilung. Kraus gestaltet die Mitteilung mittels der Rhetorik.
Wie für Kraus stellen rhetorische Figuren auch für Übersetzer:innen kein ästhetisches Bedürfnis dar. Sie stellen sprachlich objektive Merkmale eines Textes dar. Und Übersetzer:innen sollten diese entweder in der Übersetzung selbst oder im Rahmen einer Anmerkung berücksichtigen, soweit diese Berücksichtigung notwendig oder sachdienlich ist. Hier ist diese beides – hier meine (nicht die einzig mögliche) Übersetzung:
»The most unintelligible prattle comes from people for whom language serves no purpose other than to make themselves intelligible«.
Rhetorische Figuren beeinflussen nicht nur den Satzbau, wo was steht, sondern auch die Wortwahl, welche Wörter in Frage kommen. Das gilt fürs Schreiben und fürs Übersetzen. Das ist auch der Grund dafür, dass meine Übersetzung von McVitys abweicht, ja komplett anders ist. Da ich die Symploke in englischer Sprache umsetzen wollte, musste ich nicht nur den Satz entsprechend bauen, sondern auch ein Wortpaar finden, das passt: Antonyme/Widersprüche/Gegensätze, die gewöhnlich wirken und ohne Weiteres verständlich sind. Da schied zum Beispiel das Paar »not understandable/understandable« aus; dieses Paar ist kein Wortpaar im Sinne der rhetorischen Figur Polyptoton. Da schieden aber auch weitere Wortpaare wie »incomprehensible/comprehensible« oder »unfathomable/fathomable« oder »ungraspable/graspable« aus. Etwa »[t]he most incomprehensible prattle comes from people for whom language serves no purpose other than to make themselves comprehensible« fällt irgendwie flach; ist, jedenfalls für meine Begriffe, zu umständlich.
Diese Ausführungen sollten nicht den Eindruck vermitteln, dass ich eine einzige Übersetzung von den über 900 in Dicta and Contradicta enthaltenen Aphorismen kritisieren oder Herrn McVitys hervorragende Leistung infrage stellen möchte. Hier wollte ich lediglich zeigen, dass die Mitteilung bestimmter Inhalte mittels der Rhetorik auch im Rahmen einer Übersetzung mittels der Rhetorik gestaltet werden kann.
Hier wollte ich dies zeigen, weil auch Rechtsanwält:innen Mitteilungen bestimmter Inhalte mittels der Rhetorik gestalten, die Übersetzer:innen für ihren Teil berücksichtigen können und – unter Umständen – sollten. Zum Bespiel: Wenn Rechtsanwält:innen schreiben, dass etwas »nicht unerheblich« ist, verwenden sie die rhetorische Figur Litotes, eine komplizierte Figur, die – grob gesagt – entweder eine doppelte Verneinung oder eine Verneinung des Gegenteils beinhaltet. Mit »nicht unerheblich« kann man meinen, dass etwas erheblich oder dass lediglich die Verneinung des Erheblich-Seins haltbar ist. Sometimes the latter is the most charitable phrasing one can offer.[4] In beiden Fällen meidet man die starke Behauptung und bietet eine abgeschwächte an – zu den unterschiedlichsten Zwecken.
Aber Rechtsanwält:innen verwenden nicht nur diese rhetorische Figur; sie verwenden auch weitere. Eine nicht unhäufige ist die Anadiplose. Wie eine Anzahl rhetorischer Figuren ist auch die Anadiplose eine Art Wiederholung. Grob formuliert: Das letzte Wort oder die letzte Wortgruppe am Ende eines Satzes oder Absatzes wiederholt sich als das erste Wort oder die erste Wortgruppe am Anfang des nächsten Satzes oder Absatzes. Ein einfaches, aber klares Beispiel kommt oft in Verbindung mit der Figur Polyptoton vor: »… ist unzutreffend. Zutreffend ist …«. Der Wortstamm »zutreffend« steht am Ende des einen Satzes und wird am Anfang des nächsten mit Abwandlung wiederholt.
Die Litotes und die Anadiplose sind nur zwei rhetorische Figuren, die Rechtsanwält:innen verwenden. Es gibt etliche weitere. Um nur vier zu nennen:
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der Chiasmus (auch commutatio genannt), »die Gegenüberstellung eines Gedankens und seine Umkehrung durch Wiederholung« (z. B. alle personenbezogenen Daten sind Daten, aber nicht alle Daten sind personenbezogene Daten«);[5]
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die rhetorische Frage;
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die Hypophora, grob das Stellen und Antworten auf einer Frage durch die Fragestellenden selbst;
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die Prolepsis, grob die Vorwegnahme etwa eines Einwands.
Für juristischen Fachübersetzer:innen hat dies zur Folge, dass sie die für ihr Fachgebiet wichtigsten rhetorischen Figuren kennen und im Einzelfall identifizieren und aufgrund dieser feststellen müssen, was im Einzelfall rhetorisch – und somit tatsächlich – gemeint ist. Für diese Übersetzer:innen hat dies zur Folge, dass sie im gegenständlichen Fahrwasser ab und an Halt machen müssen. Wenn sie etwa »nicht unerheblich« lesen, dürfen sie nicht ohne Weiteres von der doppelten Verneinung ausgehen; sie müssen feststellen, ob diese oder die Verneinung des Gegenteils gemeint ist. Wenn mit »nicht unerheblich« die Verneinung des Gegenteils gemeint ist und man dies mit einer zieltextlichen Entsprechung von »erheblich« übersetzte, so wäre die Übersetzung weder richtig noch haltbar. Entsprechendes gilt aber auch im Falle der doppelten Verneinung. Entsprechendes gilt im Falle der Anadiplose. Entsprechendes gilt für alle rhetorischen Figuren. Man muss Halt machen, die rhetorische Figur identifizieren, die Bedeutung des Inhalts feststellen, eine passende Übersetzung finden. And so it goes …
Fazit ist: Zur Feststellung der jeweils durch eine rhetorische Figur entstehenden Bedeutung hilft der Kontext; er ist aber nicht, zumindest nicht notwendig, der wichtigste bestimmende Faktor beim Übersetzen. Der Kontext ist nur Teil des gegenständlichen Fahrwassers, das Übersetzer:innen sicher navigieren müssen, um sprachliche Unglücke und Scheintiefen (egal wie amüsant) zu meiden.
Endnoten
1 Siehe: (1) Seite 3, Ray Monks Ludwig Wittgenstein: The Duty of Genius. London: Vintage Books, 1991, (2) den Brief, Nr. 116, Seite 147, in Wittgenstein: Familienbriefe, herausgegeben von Maria Concetta Ascher, Brian McGuinness und Otto Pfersmann. Verlag Hölder-Pichler-Tempsky, 1996, und (3) meine Übersetzung des Briefes, Seiten 196–97, in Wittgenstein’s family letters: corresponding with Ludwig, herausgegeben von Brian McGuinness, übersetzt von Peter Winslow. London: Bloomsbury Academic, 2018.
2 Seite 66, Sprüche und Widersprüche. In Aphorismen, herausgegeben von Christian Wagenknecht, 7–178. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1986.
3 Seite 42, in Karl Kraus. Dicta and Contradicta. Übersetzt von Jonathan McVity. Urbana and Chicago: University of Illinois Press, 2001.
4 Vergleiche Seite 205, Ward Farnsworth, Farnsworth’s Classical English Rhetoric. Boston: David R. Godine · Publisher, 2011.
5 Seite 395, § 800, in Heinrich Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik: Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft. 3. Auflage. Stuttgart: Franz Steiner Verlag, 1990.