Gedanken zu Afghanistan und Schutzpflicht der Bundesrepublik Deutschland
Gespeichert von Dr. Michael Selk am
Wenn man seit Tagen und bald Wochen die Ereignisse in Afghanistan verfolgt, stellen sich m.E. auch grundrechtsrelevante Fragen von nicht unerheblicher Brisanz.
Wir erinnern noch das Schleyer-Urteil des BVerfG, BVerfGE 46, 160. Das BVerfG hielt seinerzeit den Eilantrag des entführten Arbeitgeberpräsidenten für zulässig, in der Sache aber wegen des Spielraums der Entscheidungsmöglichkeiten und der Entscheidungsverantwortung der staatlichen Gewalt für unbegründet. Zwar könne sich die Entscheidung bei der Wahl der Mittel auf eine einzige richtige reduzieren, das sei aber da nicht der Fall. Spätestens seit diesem Urteil steht indes fest, dass auch der Einzelne in sehr engen Grenzen einen Anspruch auf staatliches Einschreiten und staatliche Hilfe erhalten kann, insbesondere dann, wenn es um die unmittelbar bevostehende Beeinträchtigung des Rechtsguts Leben geht, Art. 1 I i.V.m. Art. 2 II GG.
Zwar richtet sich die so abgeleitete Schutzpflicht primär gegen den Gesetzgeber. Aber auch die anderen Staatsgewalten sind ihr verpflichtet, Art. 1 III GG, also auch die Exekutive, s. nur BVerfGE 56,64.
Für die deutschen Staatsangehörigen in Afghanistan steht auch nach den Erklärungen der Bundesregierung der letzten Tage fest, dass diese viel zu spät aus dem Land herausgeflogen worden sind. Die Wahrscheinlichkeit für eine Beeinträchtigung von Leib und Leben durch die Taliban ist unstreitig hoch (gewesen). Verfassungsrechtlich wird man angesichts dieser Ausnahmesitutation von einer Verletzung der staatlichen Schutzpflicht ausgehen können, zumal nicht ersichtlich ist, warum eine andere Entscheidung als das rechtzeitige Ausfliegen der deutschen Staatsangehörigen richtig gewesen sein soll. Will man an der Zuständigkeit der Exekutive zweifeln, so hätte die Legislative rechtzeitig Normen für diese Situation schaffen müssen. An der Schutzpflichtverletzung ändert dies nichts.
Interessanter ist die rechtliche Situation für die afghanischen "Ortskräfte" - bislang war hier stets nur von einer moralischen Pflicht die Rede, diesen zu helfen und sie "herauszuholen". Andere Möglichkeiten der Hilfe, auch der Selbsthilfe, sind in tatsächlicher Hinsicht nicht ersichtlich (vgl. BVerfG NJW-RR 2016, 193). Wichtig ist zunächt die Erkenntnis, dass Art. 1, 2 II GG sog. "Jedermann"-Grundrechte sind - auch die staatliche Schutzpflicht ist nicht auf deutsche Staatsangehörige beschränkt. Klar ist, dass eine allgemeine Rundumverantwortung des deutschen Staates für Gefährdungen von Ausländern weltweit gewiss verfassungsrechtlich nicht besteht. Anders aber könnte die Lage dann sein, wenn die deutschen Staatsorgane durch ihr Verhalten die Gefährdungslage - auch mit Zustimmung der betroffenen Nichtdeutschen, hier also der "Ortskräfte" - gerade erst "geschaffen" haben. Die Figur der Ingerenz - Garantenstellung durch vergangenes Tun - ist aus dem Strafrecht bekannt; sie kommt auch bei rechtmäßigen Vorverhalten in Frage. Verfassungsrechtlich wird dies tatsächlich bislang, soweit ersichtlich, noch nicht diskutiert. Allerdings spricht viel dafür, dieses Vorverhalten als begrenzendes Korrektiv gegen eine sonst allumfassende Schutzpflicht zu bejahen. Auch das BVerfG hat im sog. Klimaschutzurteil die Verursachung durch die menschenverursachte Erderwärmung und daraus zu ziehende Folgen auch für die staatliche Schutzpflicht betont (vgl. BVerfG, NJW 2021ff Rn 108) betont - Folgen eben auch eines Vorverhaltens.
Es spricht also viel dafür, auch eine verfassungsrechtliche Verantwortung der Bundesrepublik gegenüber den "Ortskräften" in Afghanistan zu bejahen. Eine ganz andere Frage ist nun, wie diese Schutzpflicht heute noch nach dem Abzug der Bundeswehr dort erfüllt werden kann. Angesichts der überragenden Bedeutung des Rechtsguts "Leben" ist auch hier der Entscheidungsspeilraum eingeengt - auf unsichere Maßnahmen darf nicht verwiesen werden. Als Möglichkeiten kommen in Betracht das unverzügliche Hinwirken auf einen gemeinsamen Einsatz ggf. auch unter Führung der NATO, sofern diplomatische Mittel scheitern - letzteres ist angesichts des Umstands, dass man sich auf Versprechen der Taliban nicht verlassen kann, leider eher wahrscheinlich.