Glossare und Besonderheiten: von Fäden und Fasern
Gespeichert von Peter Winslow am
Neulich las ich im Online-Glossar eines deutschen Immobilienübersetzers, dass die englischen Begriffe »lot«, »plot« und »site« jeweils mit dem deutschen Begriff »Grundstück« zu übersetzen seien. Ich verlinke nicht drauf; ich möchte ihm nicht schaden. Man sieht, etwas stimmt hier nicht. Was? Die einfache und klare Darstellungsform, die Glossare anzunehmen pflegen – sie überzeugt nicht. Komplexe Gegenstände einfach darzustellen, ist eine Art Kunst, die nicht einfach, sondern (sehr) schwierig ist. Den Versuch, die Versuchung, versteht man aber. Hier wird versucht, hier wird der Versuchung nachgegeben, ein zweisprachiges Rätsel zu lösen, das heißt: etwas Licht in die Finsternis des Unwissens oder der Ungewissheit zu bringen. Im hiesigen Fall ist dieses Licht leider nichts mehr als ein Streichholz, das sich durch den leisesten Hauch des Widerspruchs auspusten lässt.
Die Worte »englische Begriffe« sind zu vage, um etwas zu bedeuten. Die Begriffe »lot«, »plot« und »site« bestehen aus lateinischen Buchstaben. Sie sind erkennbar englisch; sie etwa »deutsch« zu nennen, stellte einen Kategoriefehler dar. Aber sie sind unbestimmt und daher unverständlich. Sie wären verständlich, wenn man sie ausdrücklich auf ein Land einschränkte, zu dessen Rechtssystem sie gehören. Denn Englisch ist weder ein Land noch ein Rechtssystem, sondern eine Sprache. Und Übersetzen hat nichts mit der Sprache, nicht einmal mit Sprachen, zu tun, genauso wenig wie das Bauen mit Hammer oder Nagel zu tun hat. Zweifelsohne gehören Hammer und Nagel zu jeder Bautätigkeit wie Sprachen zu jeder Übersetzungstätigkeit. Dennoch trifft man keinen Nagel auf den Kopf, wenn man eine fachliche Bautätigkeit allein durchs Hämmern bestimmen wollte. Das Endergebnis einer solchen Bautätigkeit wäre gefährlich, zumindest nicht fachgerecht. Und wie ein fachgerechter Bau bedarf auch eine fachgerechte Übersetzung mehr als nur Werkzeuge; sie bedarf auch und unter anderem Fachkenntnisse und Sorgfalt.
Daher sind Glossare allgemeiner Natur, wie das gegenständliche, auch paradoxe Erscheinungen. Wer sie braucht, wird nicht geholfen; wer sie versteht, braucht ihre Hilfe nicht. Also: Wer das gegenständliche Glossar braucht, findet keine Hilfe; es wird nicht einmal angegeben, für welches Land, für welches Rechtssystem es gelten soll. In diesem Fall wäre jede Übersetzung, die auf Grund dieses Glossars erfolgte, unbegründet oder problematisch oder beides. Wer dieses Glossar versteht, weiß, dass ihm wesentliche Angaben fehlen und dass es daher nicht besonders hilfreich ist. Dieser Mensch verstünde, dass weitere Recherche und somit weitere Feststellungen angebracht und notwendig wären. Anstatt nur der einen Aufgabe – der Übersetzung des Texts etwa mit dem Begriff »lot« – hat dieser Mensch jetzt zwei Aufgaben – die Übersetzung und die Prüfung des Glossareintrages. Da ein Glossar erstellt wurde, hat man mehr Arbeit.
Diese Prüfung könnte viele Formen annehmen. Man könnte zum Beispiel rückwärts arbeiten – also mit Feststellungen zum deutschen Fachbegriff anfangen und einen roten Faden suchen, der zu einem oder mehreren juristischen Fachbegriffen in Großbritannien oder in Australien oder in den USA oder in einem anderen englischsprachigen Land führt. So könnte man mit dem Bürgerlichen Gesetzbuch anfangen. Dort wird dieser Fachbegriff (meines Wissens) zwar nicht gesetzlich definiert (wie etwa der Begriff »Sache«), aber anhand bestimmter Vorschriften lässt sich etwas bestimmtes zu ihm sagen. Nach § 94 BGB gehören zu den Bestandteilen eines Grundstücks »die mit dem Grund und Boden fest verbundenen Sachen, insbesondere Gebäude«; nach § 95 BGB »solche Sachen nicht, die nur zu einem vorübergehenden Zweck mit dem Grund und Boden verbunden sind«; nach § 96 BGB »Rechte, die mit dem Eigentum an einem Grundstück verbunden sind«.
Ich weiß nicht, wie der entsprechende juristische Fachbegriff etwa in Großbritannien oder in Australien lautete. Ich bin Amerikaner; meine Staatsbürgerschaft sollte mir endlich mal zugute kommen, sei es auch nur, um mein Unwissen zu rechtfertigen. Ich weiß aber, dass in den USA der entsprechende Fachbegriff weder »lot« noch »plot« noch »site« lautet. In den USA gibt es nämlich einen juristischen Fachbegriff, der im Wesentlichen dem deutschen Fachbegriff »Grundstück« annähert. Und dieser Begriff lautet »real property«. Laut Black’s Law Dictionary (10th Edition) gehören zu »real property«
land and anything growing on, attached to, or erected on it, excluding anything that may be severed without injury to the land. Real property can be either corporeal (soil and buildings) or incorporeal (easements).
Eine rudimentäre Gegenüberstellung zeigt, dass der Halbsatz »land and anything growing on, attached to, or erected on it« grob § 94 BGB entspricht, der Halbsatz »excluding anything that may be severed without injury to the land« (sehr?) grob § 95 BGB und der Satz »[r]eal property can be either corporeal (soil and buildings) or incorporeal (easements)« grob § 96 BGB.
Also: a dead end. Man hat die amerikanische stichhaltige Annäherung des deutschen Fachbegriffs »Grundstück« feststellen können, aber keine deutsche der »englischen« Begriffe »lot«, »plot« oder »site«. Also führte der Versuch zum Irrtum. Versuchen wir’s noch einmal. And so it goes. Fangen wir mit »lot« an … Wie lautet dieser Begriff in Großbritannien, in Australien, in den USA, in einem anderen englischsprachigen Land? Und was ist mit »plot«? mit »site«?
Verstehen Sie mich bitte nicht falsch. Ich behaupte nicht, dass man sich keinen Umstand vorstellen könnte, in dem einer dieser Begriffe mit »Grundstück« zu übersetzen wäre. Ich möchte nicht an der Vorstellungskraft auch nur einer Person zweifeln – so zu zweifeln, liefe auch den Tatsachen zuwider. Offensichtlich hat sich mindestens eine Person genau diesen Umstand vorgestellt, nämlich ein deutscher Immobilienübersetzer. Trotzdem höre ich den Einwand: Der Ausdruck »I have my own plot of land« sei etwa mit »ich habe ein eigenes Grundstück« zu übersetzen, egal auf welcher Seite des großen Teiches er gesagt oder geschrieben wird.
Das dürfte stimmen. Ich weiß es nicht so genau. In den USA stimmte das … vielleicht … unter Umständen. Überhaupt weise ich darauf hin, dass bei diesem Einwand nicht der Begriff »plot« mit »Grundstück« übersetzt wird, sondern der Ausdruck »plot of land«. Auch weiß ich nicht, ob man bei einer juristischen Fachübersetzung Wert auf ein »Vielleicht« oder ein »Unter-Umständen« setzen möchte. »Ich will Euch Unterschied lehren«, sagt Kent zu Lear.*
Das Übersetzen ist unter anderem eine Wittgenstein’sche Tätigkeit. Ich meine, es ist eine Tätigkeit, wie der spätere Wittgenstein die Tätigkeit des Philosophierens auffasste. Wie das Philosophieren setzt das Übersetzen voraus, dass man sich mit den Besonderheiten des Einzelfalls auseinandersetzt. Und diese Auseinandersetzung zielt auf die Feststellung der Unterschiede und der Ähnlichkeiten ab – im Hinblick auf Fachbegriffe unterschiedlicher Rechtssysteme, Standardklauseln unterschiedlicher Länder, rhetorische Figuren etc. Um eine Metapher von Wittgenstein zu verwenden: Diese Ähnlichkeiten sind wie die Fasern eines Fadens; die Stärke des Fadens liege darin, dass »viele Fasern einander übergreifen«.†
Je mehr Ähnlichkeiten zwischen Fachbegriffen unterschiedlicher Rechtssysteme, Standardklauseln unterschiedlicher Länder, rhetorischer Figuren etc. bestehen, desto stichhaltiger ist die jeweilige Annäherung. Und umgekehrt: Je mehr Unterschiede zwischen ihnen bestehen, desto schwacher die Annäherung. Glossare allgemeiner Natur, wie das gegenständliche, präsentieren in vereinfachter Darstellungsform nur den Faden. Man sieht nicht, ob er stark ist. Man sieht nicht, ob Fasern einander übergreifen. Bevor man Glossare dieser Art einsetzt, muss man etwas ziehen, prüfen, ob sie sich ausfransen lassen.
Endnoten
* Seite 517 von William Shakespeares König Lear. In Tragödien. Herausgegeben von Günter Klotz. Berlin: Aufbau Verlag, 2009, Seiten 497–603.
† § 67 von Ludwig Wittgenstein Philosophische Untersuchungen. Auf der Grundlage der Kritisch-genetischen Edition. Herausgegeben von Joachim Schulte. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 2003.