Coronabilanz: Die Verwandlung der Demokratie in der Pandemie
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Von Prof. Dr. Dr. Udo Di Fabio
Mein neues Buch "Coronabilanz" ist keine Abrechnung mit der Coronapolitik. Es ist keine Lektüre für Wutbürger. Trauer, Ängste, Ärger und auch Verzweiflung könnten Gegenstand einer solchen Bilanz sein. Doch hier geht es vor allem um die Frage, wie sich eigentlich die Demokratie geschlagen hat, in Deutschland, in Europa. Und es geht darum, was sich bislang verändert hat und was sich unter dem Eindruck der Pandemie noch verändern wird. Wo steht der Westen nach der Pandemie? Sind seine humanen Werte zur Geltung gelangt, haben sich seine institutionellen Grundlagen bewährt oder hat sich unter der Oberfläche einer scheinbar stillgestellten Gesellschaft etwas verschoben?
Hat das Recht seine Prüfung bestanden oder haben die Grundrechte als Schönwettergarantien enttäuscht, haben wir womöglich gelernt, dass sie im Notstand einfach zur Seite geschoben werden können? Bahnt sich mit der Klimaschutzentscheidung des Bundesverfassungsgerichts ein neues, womöglich umstürzendes Umdenken an, wenn der Grundrechtssenat im Ergebnis fordert, Grundrechte heute mehr einzuschränken, damit übermorgen mehr Freiheit für die junge Generation bleibt?
Haben der Föderalismus und die Europäische Union den Härtetest bestanden oder wurden Risse im Fundament sichtbar? Waren eigensinnige Nationen wie die USA, Israel oder das Vereinigte Königreich durch die Pandemie in ihrem demokratischen Zusammenhalt gefährdeter oder waren sie erfolgreicher als die multilateral und supranational stärker eingebundenen Staaten?
Zeigten sich gar Diktaturen und Autokratien den Demokratien überlegen? Wie hat sich die globalisierte Marktwirtschaft bewährt? Ist Europa allzu abhängig von internationalen Lieferketten? Hat sich die digitale Infrastruktur einer Gesellschaft am heimischen Bildschirm besser gehalten als erwartet oder hat sie doch versagt, wenn man an digitalen Schulunterricht, an den Transfer von Medizindaten oder an die Rückverfolgbarkeit von Kontakten denkt?
Die Gesellschaften des Westens leiden schon seit längerem unter neuen Zerklüftungen, Ungewissheiten und Ungleichheiten. Das ist in der Infektionskrise nur vordergründig verblasst.
Zuerst wurde auf alte Menschen als besonders vulnerable Gruppe geschaut, dann auch vermehrt auf Milieus sozialer Brennpunkte, die besonders hohe Inzidenzen und schwere Verläufe aufwiesen. In der Krise ist das Gewicht des Staates ein weiteres Mal gewachsen, sein Gewicht gegenüber der Gesellschaft, der er dienen soll. Nicht nur weitreichende Eingriffsmaßnahmen der Staaten, sondern auch ihre finanziellen Leistungen zur Kompensation, zur Stabilisierung und zur Rettung von bedeutsamen Unternehmen– wie im Luftverkehrssektor– haben den Staatsanteil am Wirtschaftsgeschehen wieder heraufgeschraubt. Das könnte eine Blaupause für die Zukunft werden, wenn man an die Transformation der Wirtschaft auf dem Weg zur Klimaneutralität denkt oder ganz allgemein an Ideen wie Nachhaltigkeit, Diversität und Gerechtigkeit.
Die Versorgung mit finanziellen Ressourcen für weitgreifende politische Transformationsprojekte hat bereits zur Erschließung neuer Finanzierungswege geführt, wie dem Corona-Wiederaufbaufonds, der in Brüssel zum Programm „NextGenerationEU“ umgewidmet wurde. Hinzu treten Forderungen, europäische Stabilitätskriterien oder die deutsche Schuldenbremse nicht nur vorübergehend auszusetzen, sondern dauerhaft zu verändern.
Es verschieben sich aber nicht nur Rollenverständnisse und institutionelle Beziehungsgeflechte zwischen Politik, Wirtschaft und Finanzen, sondern auch der Blick auf die Wissenschaft wird ein anderer. Die Rolle der Wissenschaft wurde in der Pandemie stark beachtet und kontrovers diskutiert. Mit dem Aluminiumhütchen auf dem Kopf meinten manche eine Corona-Diktatur der Virologen zu erspähen.
Wer Regierungsverantwortung trug, sah das anders. Sie oder er wollte dem wissenschaftlichen Rat gerne folgen, aber der schien manchmal mehrstimmig oder auch unbestimmt, mitunter wechselhaft. Kann man „der“ Wissenschaft eigentlich folgen, wie es etwa Klimaschützer fordern, sollte man es und wie kann man es tun?
Eine tiefergehende Krise stellt beinah alles auf den Prüfstand. Das macht eine Bilanz, zumal eine differenzierte, schwierig. Es geht im Buch „Coronabilanz“ darum, lose Fäden zusammenzuführen, ausgefasert in einer scheinbar stillgestellten Gesellschaft, die in ihrer ideellen Orientierung aber gerade einen tiefen Umbruch erlebt. Am hoffentlich baldigen Ende einer alles beherrschenden Pandemie wird der Blick wieder klarer, auf die Zukunft und auf die Möglichkeiten ihrer Gestaltung.