Übersetzungsagenturen
Gespeichert von Peter Winslow am
Die Angebotsseite des Übersetzungsmarkts besteht aus einzelkämpfenden Freiberufler:innen und Übersetzungsagenturen. Auf den ersten Blick wirkt diese Einteilung unbedenklich. In Wirklichkeit ist diese etwas paradox: Selbst wenn Sie eine Übersetzungsagentur mit einer Übersetzung beauftragen, wird die Übersetzung im Regelfall durch eine einzelkämpfende Freiberuflerin oder einen einzelkämpfenden Freiberufler angefertigt. Agenturen reden gerne von »unseren Linguisten«, mit denen sie »seit Jahren zusammenarbeiten« und die sie »sorfältig ausgewählt« haben. Lesen Sie die Website-Texte Ihrer Lieblingsagentur durch. Diese »Linquisten« sind meistens keine Angestellten – sie werden »ausgewählt«, nicht angestellt. Das heißt: Agenturen dienen als Vermittlerinnen zwischen Ihnen als Direktkund:in und den Freiberufler:innen als Ausführungskräften, selbst wenn die Agentur über ein eigenes Übersetzungsteam verfügt. Oder wie es auf Seite 168 des Buches Berufsrecht der Übersetzer und Dolmetscher, das 2012 von Manuel Cebulla herausgegeben wurde und beim BDÜ Fachverlag erschienen ist, wörtlich heißt:
Häufig kommt es zu Ketten von Unterauftragsverhältnissen (sogenannte werkvertragliche Leistungskette [sic]), wobei es nicht unüblich ist, dass ein Übersetzungskunde eine Übersetzung bei einem Übersetzungsbüro bestellt, das wiederum ein anderes Übersetzungsbüro engagiert, welches ein weiteres Büro einschaltet, das dann die Übersetzung von einem Freiberufler anfertigen lässt, der wiederum für das Korrekturlesen einen weiteren Übersetzer einsetzt.
Zwischen 2012 und 2021 hat sich nicht viel geändert. Und jedes Glied, jede juristische und natürliche Person, dieser werkvertraglichen Leistungskette muss vergütet werden. Das Honorar, das Sie an eine Agentur für eine Übersetzung zahlen, wird mit jedem neuen Glied in der Kette um einen bestimmten Betrag des vorgelagerten Kettenglieds reduziert. Dieser Betrag kann alles mögliche sein; man hört auch alles mögliche, zum Beispiel: dass eine Marge von 10% bis 90% des jeweiligen Auftragswertes bei jedem Glied der Leistungskette erzielt werde.
Im Gegenzug, so lautet die Geschichte, die man immer wieder am Markt hört, müssten Subunternehmer:innen und Freiberufler:innen weniger Marketingmaßnahmen ergreifen, müssten sich weniger um die Kundenbetreuung bemühen und könnten sich mehr auf die Übersetzungsarbeit an und für sich konzentrieren. Subunternehmer:innen und Freiberufler:innen müssten und könnten dies deswegen weniger, weil die Agenturen die Marketingmaßnahmen und die Kundenbetreuung übernähmen; weil Subunternehmer:innen und Freiberufler:innen ohne die Notwendigkeit dieser Maßnahmen und ohne die Notwendigkeit dieser Betreuung mehr Zeit für die Übersetzungsarbeit hätten. Schwarz auf Weiß hört sich diese Geschichte gut an. In der bunten Welt der Übersetzungspraxis ist die Wahrheit viel komplizierter; sie ist selten schwarzweiß.
In der bunten Welt der Übersetzungspraxis stellt sich die Frage, ob diese werkvertraglichen Leistungsketten eine unverhältnismäßig höhe Vergütung für die Vermittlungsrolle der Agenturen zur Folgen haben. Das ist vielleicht eine Grauzone, an der sich die Geister scheiden könnten. Eine geringere Grauzone, vor der man sogar rot sehen könnte, besteht in einer berüchtigten Strategie der Agenturen speziell gegenüber Freiberufler:innen. Diese bestehe darin, Freiberufler:innen über längere Zeiträume zu verpflichten – mit einem Auftrag nach dem anderen, zeitlich so abgestimmt, dass Freiberufler:innen keine Zeit haben, andere Aufträge von anderen Kund:innen zu übernehmen. Die Wirkung sei somit eine Art Scheinselbstständigkeit, aus der Freiberufler:innen nur mit finanziellen Nachteilen wegkämen. Die Wirkung sei somit eine Art Anstellungsverhältnis ohne Anstellung und ohne Anstellungskosten für die Agenturen und ohne Urlaub und ohne Krankenkassenbeiträge für die Freiberufler:innen. Stimmt das wirklich? Das weiß ich nicht. Ich tue nur ein Gerücht kund.
In Wirklichkeit stimmt zumindest dies: Da Übersetzungsagenturen regelmäßig Gesellschaften sind, etwa Gesellschaften mit beschränkter Haftung oder Aktiengesellschaften, können diese regelmäßig mehr Geld in Marketingmaßnahmen, Vertriebsteams und Ähnliches investieren als Freiberufler:innen. Um das resultierende Auftragsvolumen bestreiten zu können, bieten Agenturen – meistens laut eigenen Angaben – Übersetzungsleistungen in allen, oder fast allen, Sprachkombinationen für alle, oder fast alle, Fachgebiete an und arbeiten – auch meistens laut eigenen Angaben – mit einer Vielzahl von Subunternehmer:innen und Freiberufler:innen weltweit zusammen.
Diese Vielzahl von Subunternehmer:innen und Freiberufler:innen macht jedoch Projektmanagement-Teams erforderlich, die nicht nur gut eingespielt und mit Übersetzungsprozessen und Ressourcenmanagement vertraut sein müssen, sondern auch in der Lage sein müssen, freiberufliche Übersetzungsteams je nach Bedarf schnell und effektiv und kostengünstig skalieren zu können. Das sehr breite Angebotsspektrum hat aber ein Pendant. Dieses führt dazu, dass die Projektmanager:innen der Agenturen nicht bei sämtlichen Fachgebieten auskennen können, für die die Agenturen Übersetzungen anbieten. Agenturen müssen sich gleichsam zwangsläufig auf die Expertise ihrer Subunternehmer:innen und Freiberufler:innen abstellen – mit der Folge, dass die Projektmanager:innen zwar die Übersetzungsprozesse gut beherrschen, aber weder die Ausgangstexte noch die durch Subunternehmer:innen und Freiberufler:innen erstellten Arbeitsergebnisse fachlich einschätzen können.
Rufen Sie Ihre Lieblingsagentur an und fragen Sie den Verkaufsmensch, der bei mancher Agentur zugleich Projektmanager:in ist, ob die Agentur die englische Übersetzung eines Gutachtens zum tierschutzrechtlichen Status des Grubenhunds übernehmen könnte. Mit einiger Wahrscheinlichkeit teilt Ihnen dieser Mensch allen Ernstes mit, dass er genau das passende Übersetzungsteam hat, deren Mitglieder gemeinsam zwischen 20 und 50 Jahre Erfahrung genau im Bereich Tierschutz und Tiermedizin verfügen (Übersetzer:innen seien Alleskönner:innen und verfügten immer über mehr Qualifikationen als nötig). Ein Grubenhund ist aber kein Hund (Canidae). Mit ihm kann man nicht Gassi gehen. Und Streicheln wäre seltsam. Denn ein Grubenhund ist nicht mal ein Tier, nicht einmal ein Lebewesen. Er besteht aus Metall und hat Rädern und wird geschoben … oder gezogen (ich bin nicht im Bereich Bergbau tätig, ich weiß es nicht).
In meinen extremeren Momenten kann ich daher nur schwer glauben, dass Anwaltskanzleien mit Übersetzungsagenturen allein oder hauptsächlich wegen ihres Fachwissens zusammenarbeiten. Ich habe mir von einem Mitarbeiter einer Anwaltskanzlei einmal sagen lassen, und damals schien es mir auch plausibel – wenn etwas paradox – dass Anwaltskanzleien deswegen nicht mit Freiberufler:innen, sondern ausschließlich mit Agenturen zusammenarbeiten, weil Agenturen angeblich Rahmenbedingungen erfüllen, die Freiberufler:innen angeblich nicht erfüllen. Neben dem umfangreichen Leistungsangebot haben Agenturen bestimmte technische und organisatorische Maßnahmen ergriffen, unterliegen bestimmten Vertraulichkeitspflichten bzw. -vereinbarungen und verfügen über Haftungssummen bzw. Vermögensschaden-Haftpflichtversicherungen.
Wissen Sie aber, ob die von Ihnen beauftragte Übersetzungsagentur eine andere Übersetzungsagentur mit Ihrer Übersetzung beauftragt, welche dann eine weitere Agentur einschaltet, die dann die Übersetzung von einer Freiberuflerin oder einem Freiberufler anfertigen lässt, die oder der wiederum für das Korrekturlesen eine weitere Person einsetzt? Ich frage noch mal: Wissen Sie das? Ich vermute nicht. Und wenn Sie das wissen sollten, wissen Sie, ob jedes Glied der werkvertraglichen Leistungskette angemessene technische und organisatorische Maßnahmen ergriffen hat? denselben oder vergleichbaren Vertraulichkeitspflichten unterliegt? über eine Vermögensschaden-Haftpflichtversicherung mit vernünftigen Bedingungen und Deckungssummen verfügt? in einem Land mit angemessenem Datenschutz sitzt? Auch Freiberufler:innen können diese Maßnahmen ergreifen; denselben, vergleichbaren, gesetzlichen Vertraulichkeitspflichten unterliegen; können einen Vermögensschaden-Haftpflichtversicherungsvertrag zu vernünftigen Bedingungen und mit einer vernünftigen Deckungssumme abschließen.
Ich frage mich, ob die meisten Übersetzungskund:innen überhaupt wissen, was mit ihren Unterlagen und Daten passiert, wenn sie eine Agentur mit einer Übersetzung beauftragen. Kennen Sie, aus wie vielen Gliedern die werkvertragliche Leistungskette besteht? Wissen Sie, dass sogar Personen an Ihre Unterlagen und Daten kommen können, ohne dass Sie oder diese Personen das wollen. Nicht selten kommt dieser paradoxe Fall vor.
Zum Beispiel: Neulich erhielt ich eine Anfrage einer Übersetzungsagentur mit Sitz in Berlin. Irgendwie bin ich im Verteiler dieser Agentur gelandet. Keine Ahnung wie. Vor dieser Anfrage kannte ich die Agentur nicht. Ich habe keine Geschäftsbeziehung mit ihr. Der E-Mail waren vier Dokumente angefügt, die dem Inhalt nach vertraulich einzustufen und entsprechend zu behandeln waren. Ich habe die Anfrage dankend abgelehnt, aber darauf hingewiesen, dass keine Vertraulichkeitsvereinbarung zwischen uns besteht. Auch habe ich unter anderem auf Folgendes hingewiesen, der Wortlaut war ungefähr so:
Während ich als vereidigter Übersetzer für die englische Sprache/Hamburg bestimmten gesetzlichen Vertraulichkeitspflichten (etwa § 5 Abs. 1 des Hamburgischen Dolmetschergesetzes) unterliege und ich naturgemäß die mir von Ihnen unaufgefordert geschickten Ausgangstexte gemäß meinen gesetzlichen Vertraulichkeitspflichten vertraulich behandele, muss ich Sie höflichst daran erinnern, dass vertraulich zu behandelnde Unterlagen – wie die mir von Ihnen geschickten – nicht weitergegeben werden sollten – vor allem, wenn keine geschäftliche Beziehung zwischen uns besteht. Ich gehe davon aus, ich bin nicht der einzige im Verteiler, mit dem Sie keine geschäftliche Beziehung haben. Diese Weitergabe kann keineswegs im Sinne Ihrer Kundschaft sein. Wenn diese davon erführe, machte sie wahrscheinlich einen Vertraulichkeitsverstoß geltend.
Es ist eine Sache, die Übersetzung eigener Unterlagen und Daten anzufragen. Es ist eine Sache, die Übersetzung von Unterlagen und Daten eines Dritten anzufragen, weil die Übersetzung etwa im Rahmen eines Streitverfahrens oder einer Transaktion unbedingt notwendig ist (zum Beispiel deswegen, weil eine Partei oder ein Gericht diese Unterlagen und Daten verstehen muss, damit rechtliche Interessen gewahrt werden können). Es ist eine ganz andere Sache, die Übersetzung von Unterlagen und Daten der eigenen Übersetzungskundschaft anzufragen, die nicht nur die Übersetzung genau dieser Unterlagen und Daten bereits bei der Übersetzungsagentur angefragt, sondern auch diese Agentur bereits mit der Übersetzung genau dieser Unterlagen und Daten beauftragt hat. Im letzteren Fall gibt es neben einer gewollten Leistungskette auch eine versuchte Anfrage- und eine erfolgte Offenlegungskette. Die Vermehrung von Ketten ist in diesem Fall nicht ganz kosher.
Diese Übersetzungsagentur hatte keine freie Kapazitäten und teilte dies ihrer Kundschaft nicht mit; stattdessen shoppte sie die Unterlagen und Daten rum – bei Menschen, die sie nicht kennt und die sie nicht kennen. Es bestand keine werkvertragliche Leistungskette. Diese Agentur wollte das Pferd von hinten aufzäumen, wollte die werkvertragliche Leistungskette herstellen, ohne zuerst eine entsprechende Vertraulichkeitskette sichergestellt zu haben. Richtig rum wäre: erst die Vertraulichkeitskette durch Feststellung oder Herstellung entsprechender Vertraulichkeitsverpflichtungen sicherstellen, dann den Versuch unternehmen, eine Leistungskette durch Unterbeauftragung herzustellen. Diese Übersetzungsagentur arbeitet offensichtlich unprofessionell. Jede Zusammenarbeit mit dieser Agentur stellte daher eine gewisse Gefahr, ein professionelles Risiko dar. Dies gilt nicht nur für mich, sondern auch für ihre Kundschaft. Wie viele E-Mail-Adressen waren im Verteiler? Wie viele Empfänger:innen dieser Anfrage kannten diese Agentur nicht? und umgekehrt? ——Und wie sieht es bei Ihrer Lieblingsagentur aus? Macht sie sowas? Können Sie sich sicher sein, dass diese sowas nicht macht, niemals machen würde?
Natürlich gibt es gute Übersetzungsagenturen, die im Wesentlichen alles richtig machen. Das kann und sollte man ohne Weiteres glauben. Aber wer nur mit Übersetzungsagenturen zusammenarbeitet, weil Agenturen angeblich Rahmenbedingungen erfüllen, die Freiberufler:innen angeblich nicht erfüllen – wer deswegen nur mit Übersetzungsagenturen zusammenarbeitet, dieser Mensch muss tief in sich gehen. Sein Übersetzungsauftrag wird in der Regel sowieso von Freiberufler:innen ausgeführt. In der Regel kommt man nicht um Freiberufler:innen umhin.