Prozess gegen 95jährige Angeklagte (KZ Stutthof)
Gespeichert von Prof. Dr. Henning Ernst Müller am
Mit großem Medienecho (DLF-Link) findet derzeit die Hauptverhandlung gegen die Sekretärin des Kommandanten des KZ Stutthof (NDR-Link) statt. Möglicherweise ist das der letzte Strafprozess wegen der Beteiligung an dem Massenmord der Nationalsozialisten. Die Tatzeit liegt mehr als 75 Jahre zurück und es gibt nur noch wenige überlebende damals schon strafmündige mutmaßlich Beteiligte. Vor Beginn der Hauptverhandlung hat die Angeklagte einen Fluchtversuch unternommen und wurde (kurzfristig) in Untersuchungshaft genommen. So klar die Schuldfrage auch sein mag, stellt sich m.E. auch die Frage, die jüngst RA Hoenig (Berlin) - sicher unverdächtig einer Verharmlosung der Straftaten der Nazizeit - auf Twitter ansprach:
"Jahrzehntelang lässt die Justiz die Massenmörder unbehelligt. Jetzt verfolgt sie deren 100-jährigen Gehilfen. Von einem Extrem ins nächste." (Twitter-Link)
Die derzeitige Strafverfolgung ist rechtlich - angesichts der fehlenden Verjährung und des Legalitätsprinzips - im Grundsatz korrekt, aber die aufgeworfene Frage hat m.E. auch eine gewisse Berechtigung. Ist die Strafverfolgung der Helfershelfer nach langjähriger Augen-Zu-Haltung (gegen alle Beteiligten) nicht gnadenlos?
Andere nannten mir das Argument, das hohe Alter allein (sofern Verhandlungsfähigkeit bestehe) dürfe nicht vor Verfolgung schützen, wenn so ein schwerer Tatverdacht bestünde. Und dass die Justiz früher nachsichtig(er) gewesen sei bei der Verfolgung, mache das jetzige Vorgehen nicht illegitim.
Ergänzung: Sehr wichtig sind aber die Hinweise von Herrn Kolos (hier unten in zB diesem Kommentar): Auf die Angeklagte wird mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nach § 105 JGG das Jugendstrafrecht anzuwenden sein. Und im Jugendstrafrecht ist die Strafe allein an spezialpräventiven Zwecken (Erziehungsgedanke) auszurichten, der Vergeltungsgedanke und auch die Generalprävention treten demgegenüber zurück. Da es kaum denkbar ist, auf eine 95jährige noch erzieherisch einzuwirken, zumal diese sich in den vergangenen 75 Jahren offenbar völlig unauffällig verhalten hat, wird auch eine jugendstrafrechtliche erzieherische Sanktion kaum mehr angemessen sein. Für eine nach § 109 Abs.2 JGG - auch bei Beihilfe zum Mord - durchaus mögliche Anwendung der §§ 45, 47 JGG haben Staatsanwaltschaft und Gericht offenbar keinen Raum gesehen. Stattdessen wird der (fragwürdigen) Rechstprechung gefolgt, bei einem mittlerweile dem Jugendalter entwachsenen Angeklagten sei der Erziehungsgedanke durch eine Form der Bestrafung zu ersetzen. Dies wird von Herrn Kolos m.E. zutreffend als nicht mit dem Grundgedanken des Jugendstrafrechts vereinbar kritisiert.