Die Opfer von Hanau und der Notausgang – Ermittlungen wegen fahrlässiger Tötung eingestellt
Gespeichert von Prof. Dr. Henning Ernst Müller am
Gestern kam die Nachricht, dass die Generalstaatsanwaltschaft in Hessen die Einstellung der Ermittlungen wegen des (möglicherweise) verschlossenen Notausgangs der Arena-Bar bestätigt hat.
Der Hintergrund:
Am 19.2.2020 hat ein offenbar rassistisch motivierter Täter in Hanau neun Menschen erschossen und anschließend sich selbst getötet.
Zwei der späteren Opfer befanden sich mit anderen Gästen in der Arena-Bar. Als die Gäste in der Bar Schüsse hörten, versuchten alle sich innerhalb der Bar in Sicherheit zu bringen. Die beiden Opfer wurden aber trotzdem durch Schüsse des Täters getötet.
Zwei Überlebende aus der Bar und die Familie Kurtovic erstatteten Anzeige gegen unbekannt: Durch einen Umbau hinter dem Tresen habe ein direkter Fluchtweg gefehlt, zudem sei der Notausgang in der Tatnacht von innen abgeschlossen gewesen. Das soll keine Ausnahme gewesen sein, Polizeibeamte hätten es gewusst und das Verschließen des Notausgangs sogar angeordnet, um bei Razzien eine mögliche Flucht von Besuchern zu verhindern.
Die Staatsanwaltschaft Hanau fand dafür keine Belege und stellte die Ermittlungen im August ein. Es habe sich nicht sicher klären lassen, ob der Notausgang wirklich verschlossen war, so die Ermittler. Mitarbeiter hätten ausgesagt, die Tür sei unverschlossen gewesen. Zudem stehe nicht fest, dass den Männern die Flucht durch einen unverschlossenen Notausgang tatsächlich hätte gelingen können.“ Quelle: Der Spiegel
Der Vorwurf, den die Angehörigen der Getöteten erhoben, war, der Betreiber der Bar habe durch Versperren der Notausgangstür den Tod der beiden Opfer der Arena-Bar mitverursacht, strafbar nach § 222 StGB (fahrlässige Tötung).
Nach der Einstellung des Verfahrens im August 2021 hatten die Angehörigen bzw. ihre Rechtsanwältin eine Expertise ("Forensic Architecture") dahingehend beauftragt, ob es den Opfern theoretisch möglich gewesen wäre, durch die Notausgangstür zu entkommen. Das Gutachten, das auch sehr anschaulich in einer Animation besteht, das anhand von Überwachungsvideos die mögliche Geschwindigkeit der Opfer, nachdem sie Schüsse gehört hatten, mit den Örtlichkeiten in der Arena-Bar abglich, hat zum Ergebnis, dass – bei unversperrter Notausgangstür - eine Fluchtmöglichkeit bestanden hätte (Link zu Forensic Architecture).
Der Spiegel schreibt dazu:
„Bewegung in die Frage zum Notausgang könnte nun ein Gutachten bringen, das das Recherchekollektiv Forensic Architecture im Auftrag der »Initiative 19. Februar« erstellt hat. Darin wird untersucht, ob die Personen in der Arena Bar genug Zeit gehabt hätten, vor dem Täter zu flüchten, wenn sie zum Notausgang gelaufen wären und dieser unverschlossen gewesen wäre. Die Untersuchung, deren Ergebnisse dem SPIEGEL vorliegen, kommt zu dem Schluss: »Alle fünf Personen hatten genug Zeit, um durch den Notausgang zu entkommen. Wenn der Notausgang offen gewesen ist, und sie das gewusst hätten, dann hätten sie alle den Anschlag überleben können." Quelle: Der Spiegel
Die Beschwerde zum GenStA wurde nun trotzdem abschlägig beschieden (FAZ). Eine gerichtliche Überprüfung durch das OLG Frankfurt kann noch erfolgen.
Dass eine Notausgangstür verschlossen ist und potentiellen Opfern in einer Notlage damit ein Fluchtweg versperrt wird, ist selbstverständlich eine kaum verzeihliche Fahrlässigkeit.
Aber die Verurteilung wegen fahrlässiger Tötung setzt hier noch mehr voraus, nämlich zumindest eine an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit, dass der (freie) Notausgang zur Rettung geführt hätte (hypothetische Kausalität).
Schon die Frage, ob der Notausgang überhaupt versperrt war oder nicht, ist umstritten geblieben.
„Im Bericht zum zweiten Tatort des rassistischen Anschlags von Hanau, der Arena-Bar mit angrenzendem Kiosk, steht: „Betritt man die Bar durch die Eingangstür, so befinden sich linksseitig vier Automaten, geradeaus gelangt man zu einem Lagerraum von welchem zwei weitere Türen abgehen. Diese zwei Türen waren jedoch bei der Tatortaufnahme verschlossen.“ Eine davon war der Notausgang.
Die beiden Sätze sind aber so gut wie wertlos geblieben. Die Staatsanwaltschaft, die nach einer Anzeige von Opfer-Angehörigen und Überlebenden wegen des Vorwurfs eines bewusst verschlossenen Notausgangs und fahrlässiger Tötung ermittelte, stellte das Verfahren im August 2021 ein – mangels hinreichenden Tatverdachts. So sei zum Beispiel aufgrund widersprüchlicher Zeugenaussagen unklar, ob die Tür am Abend des 19. Februar 2020 tatsächlich zugesperrt war.“ Quelle: Frankfurter Rundschau
Ergänzung/Korrektur am 1.12.2022:
Aus Videoaufnahmen 1 Stunde vor dem Attentat lässt sich wohl entnehmen, dass die Tür tatsächlich verschlossen war.
Jedoch: Darauf, ob der Notausgang offen oder versperrt war, kommt es wohl gar nicht an. Dieser Ermittlungsschritt wäre zwar für ein Ordnungswidrigkeitenverfahren gegen den Betreiber der Bar erforderlich und nützlich, nicht aber für die hier interessierende Fragestellung.
Denn die Gäste sind tatsächlich gar nicht in Richtung des Notausgangs geflohen.
„Der Notausgang war für uns keine Option, weil jedem klar war, dass er zu ist“, sagte Said Etris Hashemi, dessen Bruder in der Arena Bar sein Leben verlor, am Montag vor dem Untersuchungsausschuss des Hessischen Landtags zu den Hanauer Morden. Im Zentrum der Sitzung stand eine Frage, zu der sich die Angehörigen vom Ausschuss eine Antwort erhoffen: Könnten die beiden Männer noch leben, wenn sie zum Notausgang gelaufen und dieser offen gewesen wäre? Quelle: FAZ
I. Der Kausalnexus fehlt
Schon mit dieser Aussage des Zeugen scheidet der tatsächliche Zustand des Notausgangs aus der Kausalkette aus. Für die Strafbarkeit nach § 222 StGB ist nämlich völlig unbedeutend, ob er tatsächlich verschlossen war oder nicht, wenn keiner der Gäste in diese Richtung geflohen ist.
Beispiel zur Erläuterung: Wenn sich nach einem Brand herausstellt, dass ein Feuerlöscher im abgebrannten Gebäude leer war, ist dies zwar empörend, aber irrelevant für die Kausalkette, wenn gar niemand den Feuerlöscher gefunden hat bzw. benutzen wollte. Die Mitteilung, der Feuerlöscher sei leer gewesen, taugt dann jedenfalls nicht dazu, den für den Brandschutz Verantwortlichen für die Brandfolgen (mit-)verantwortlich zu machen. So ist es auch in Hanau: Da niemand in der konkreten Situation überhaupt in Richtung des Notausgangs geflohen ist, kann auch nicht der für den Notausgang Verantwortliche für die eingetretenen tödlichen Folgen haftbar gemacht werden, die (möglicherweise) durch einen geöffneten Notausgang hätten verhindert werden können. Es besteht hier schlicht kein Kausalnexus zwischen dem Notausgang und den konkreten Taterfolgen.
Dass die Gäste überzeugt waren, der Notausgang sei sowieso verschlossen, ändert daran nichts, denn dafür, was die Gäste wissen oder glauben zu wissen, kann der Wirt nicht verantwortlich gemacht werden (es sei denn, er hätte ihnen ausdrücklich mitgeteilt, dass der Notausgang gesperrt sei).
Ergänzung/Korrektur am 1.12.2022: Es gibt Hinweise darauf, dass durchaus weithin unter den Gästen bekannt war, dass dieser Ausgang verschlossen war. Ob dies für alle Gäste an diesem Abend galt, insbes. die späteren Opfer, ist jedoch nicht bekannt.
Zudem ist ja fraglich, ob dieses "Wissen" der einzige Grund dafür war, warum sie nicht zum Notausgang flohen. Denn wie in der Animation von Forensic Architecture (You Tube - Link) zu erkennen ist, hätten sie, um zum Notausgang zu kommen, zunächst in Richtung der Eingangstür laufen müssen (siehe screenshots über diesem Beitrag unten links), in der jeden Moment der Täter hätte auftauchen können. Eine Verurteilung wegen fahrl. Tötung käme - wenn der Notausgang verschlossen war - nur in Betracht, wenn ein offener Notausgang mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die beiden Todesopfer gerettet hätte. Das Gutachten von Forensic Architecture beantwortet nur die Frage, ob potentiell der Notausgang zur Rettung geeignet gewesen wäre. Das ist aber noch nicht hinreichend für einen (hypothetischen) Kausalnexus, der das tatsächliche Geschehen einbeziehen muss. Und tatsächlich sind die Gäste (auch die späteren Opfer) in die Gegenrichtung geflohen (siehe ersten screenshot über diesem Beitrag).
Der Grund: Fahrlässige Tötung ist ein reines Erfolgsdelikt. Es mag manchmal ungerecht erscheinen, wenn der Fahrlässigkeitstäter durch einen Zufall, den er nicht beeinflusst hat, trotz Fehlverhaltens vor Strafverfolgung geschützt ist, während andere, die weniger „Glück“ haben, bestraft werden müssen (Beispiele im Straßenverkehr dafür gibt es zuhauf). Aber eine noch so gravierende Fahrlässigkeit bleibt im Rahmen des § 222 StGB unbestraft, wenn sie nicht kausal (!) die tödliche Folge nach sich zieht, während auch eine leichte Fahrlässigkeit bei tödlicher Folge bestraft werden kann.
II. Der Zurechnungszusammenhang wäre fraglich
Ich möchte aber noch auf ein weiteres Missverständnis in dieser Frage eingehen und dazu einmal hypothetisch unterstellen, die Opfer hätten tatsächlich versucht, durch den Notausgang zu entkommen, hätten dieser aber versperrt vorgefunden. Dann wäre der (hypothetische) Kausalnexus immerhin naheliegend (wenn auch nicht völlig sicher, denn möglicherweise hätte der Täter sie auch bei geöffneter Tür verfolgen bzw. auf sie schießen können)
Aber auch bei Bejahung der Kausalität hätte nicht ohne Weiteres eine Strafbarkeit des Barbetreibers resultiert.
Als nächstes stellt sich nämlich die Frage, ob der durch die fahrlässige Handlung mitverursachte Erfolg dem Fahrlässigkeitstäter auch objektiv zurechenbar ist.
Dies ist eine durchaus vertrackte Frage, deren Antwort in der juristischen Diskussion umstritten ist, und die praktisch geworden wäre, wenn die Staatsanwaltschaft sich im Hanauer Fall zur Anklage entschlossen hätte.
Es handelt sich um einen Fall der fahrlässigen Nebentäterschaft, aber nicht um den schon „üblichen“ Fall, dass mehrere fahrlässig Handelnde neben- oder nacheinander für denselben Erfolg kausal werden (Beispiele: Duisburger Loveparade 2010, Wuppertaler Schwebebahn), sondern um den Fall, in dem ein fahrlässiger Täter neben einem vorsätzlichen Täter haften soll.
In solchen Fällen kann der vorsätzlich handelnde Täter den nur fahrlässig handelnden Mitverursacher aus dem strafrechtlichen Zurechnungszusammenhang verdrängen.
Die Beantwortung dieser Frage hängt u.a. eng damit zusammen, wie weit der Vertrauensgrundsatz (gemeint ist konkret die Verantwortlichkeit bei gleichzeitigem vorsätzl. Fehlverhalten Dritter) überhaupt reicht, und ob diejenige Sorgfaltsnorm, die die Fahrlässigkeit begründet, zugleich den Schutzzweck hat, vorsätzliche Handlungen Dritter zu verhindern.
1. Zum Vertrauensgrundsatz/hier: Verantwortlichkeit für das vorsätzl. Fehlverhalten Dritter:
Es geht im Hanauer Fall nicht um die Förderung erkennbar Tatgeneigter (ein Beispielsfall wäre der Verkauf gefährlicher Gegenstände oder Gifte, ein anderer wäre der Fall des Vaters eines Amokschützen). Und es geht auch nicht um einen Fall der fahrlässigen Anstiftung.
Vielmehr geht es hier um die Fallkonstellation, in der fahrlässig eine Situation geschaffen wird, die eine Vorsatztat bzw. deren erfolgreiche Ausführung situativ erleichtert. In solchen Fällen wird man regelmäßig eine Zurechnung des Erfolgs zur Fahrlässigkeit verneinen. Roxin wendet sich deshalb m.E. zu recht gegen die Ansicht des Reichsgerichts in RGSt 61, 318. Das RG hatte argumentiert, der Erbauer einer feuergefährlichen Wohnung sei auch dann für den Brandtod seiner Mieter verantwortlich, wenn der Brand vorsätzlich gelegt worden sei (Roxin Strafrecht AT I, § 24 Rz. 33). Roxin hält dagegen: Der Erbauer habe eine vorsätzliche Brandstiftung nicht in Rechnung stellen müssen. Zustimmung verdient laut Roxin aber OLG Stuttgart NStZ 1997, 190 : Das OLG hat einen Angeklagten, der brennbare Stoffe im Hauseingang gelagert hatte, von dem Vorwurf fahrlässiger Tötung freigesprochen, nachdem ein Brandstifter mit diesem Material das Haus in Brand gesteckt hatte – immerhin mit sieben Todesopfern. Eine eingehende und differenzierte Besprechung dieses Falls findet sich auch im gerade erschienen neuen Buch "Strafrecht. Examenswissen. Examenstraining" von Wolfgang Frisch, dort bei Fall 13 auf S.93 ff.
Ich würde den vorliegenden Fall (wenn man die hypothetische Ergänzung vornimmt, s.o.) ähnlich beurteilen: Wegen des Versperrens der Notausgangstür wäre der Wirt zwar bei (zufälliger oder fahrlässiger) Brandentstehung für Todesfälle (mit-)verantwortlich zu machen, nicht aber konnte er ein solches Schusswaffen-Attentat, wie in Hanau geschehen, vorhersehen. Im Ergebnis wäre selbst dann, wenn die Flucht der späteren Opfer tatsächlich am versperrten Notausgang gescheitert wäre, eine Wahrscheinlichkeit der Verurteilung zu verneinen gewesen.
2. Zum Schutzzweck bzw. normativer Pflichtwidrigkeitszusammenhang:
Zum gleichen Ergebnis kommt die Schutzzweck-Betrachtung. Die Pflicht zur Einrichtung von Fluchtwegen und deren Freihaltung besteht aus Brandschutzgründen. Ein Brand hat allerdings gar nicht vorgelegen. Deshalb fehlt es am Pflichtwidrigkeitszusammenhang, der eine wesentliche Komponente der strafrechtlichen Haftung für fahrlässiges Verhalten ist.
Abschließende Anmerkungen: Der gesamte Bereich, der die fahrlässige Beteiligung bzw. Mitverursachung an vorsätzlich von Dritten herbeigeführten tatbestandlichen Erfolgen betrifft, ist aber nicht so eindeutig geklärt, dass man mit wenigen Daumenregeln schon endgültige Ergebnisse erzielen kann.
Deshalb bin ich gespannt auf Ihre Diskussionsbeiträge und Kommentare, wobei wie immer gilt: Bitte sachlich bleiben und beim Thema.
Ergänzung am 1. Dezember 2022:
Wie ich aus zuverlässiger Quelle erfahren habe, gab es doch recht sichere Anzeichen dafür, dass der Notaugang generell verschlossen war und es auch an konkret diesem Abend war. Die Gäste wussten offenbar darüber Bescheid. Deshalb habe ich meine obigen Ausfühtungen an den entsprechenden Stellen ergänzt/korrigiert. An dem Problem des Zurechnungszusammenhangs bei fahrlässiger Erleichterung einer vorsätzlichen Tat (siehe oben II.) kommt man trotzdem m.E. kaum vorbei.