Regulierung Sozialer Netzwerke - ÖVGH legt Europäischem Gerichtshof Fragen zum Herkunftslandprinzip vor
Gespeichert von Prof. Dr. Marc Liesching am
Der Österreichische Verwaltungsgerichtshof befasst sich in einem aktuellen Verfahren mit der Unionsrechtskonformität des Kommunikationsplattformen-Gesetzes (KoPl-G), dessen verpflichende Melde- und Überprüfungsverfahren für Soziale Netzwerke im Wesentlichen dem deutschen Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG) nachgebildet sind. Der ÖVGH hat im Kontext der Vereinbarkeit der KoPl-G-Bestimmungen mit dem Herkunftslandprinzip nach Art. 3 Abs. 2 ECRL insbesondere folgende beiden Fragen dem Europäischen Gerichtshof durch Beschluss vom 24.5.2022 zur Vorabentscheidung vorgelegt:
- Ist Art. 3 Abs. 4 Buchst. a Ziffer ii) der Richtlinie 2000/31/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 8. Juni 2000 über bestimmte rechtliche Aspekte der Dienste der Informationsgesellschaft, insbesondere des elektronischen Geschäftsverkehrs, im Binnenmarkt (Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr), ABl. L 178 vom 17.7.2000, S. 1, dahin auszulegen, dass unter einer Maßnahme, die einen „bestimmten Dienst der Informationsgesellschaft“ betrifft, auch eine gesetzliche Maßnahme verstanden werden kann, die sich auf eine allgemein umschriebene Kategorie bestimmter Dienste der Informationsgesellschaft (wie Kommunikationsplattformen) bezieht, oder erfordert das Vorliegen einer Maßnahme im Sinne dieser Bestimmung, dass eine Entscheidung bezogen auf einen konkreten Einzelfall (etwa betreffend eine namentlich bestimmte Kommunikationsplattform) getroffen wird?
- Ist Art. 3 Abs. 5 der Richtlinie 2000/31 dahin auszulegen, dass das Unterbleiben der nach dieser Bestimmung in dringlichen Fällen „sobald wie möglich“ (nachträglich) vorzunehmenden Mitteilung an die Kommission und den Sitzmitgliedstaat über die getroffene Maßnahme dazu führt, dass diese Maßnahme - nach Ablauf eines für die (nachträgliche) Mitteilung ausreichenden Zeitraums - auf einen bestimmten Dienst nicht angewendet werden darf?
Beide Fragestellungen sind auch in Bezug auf die Unionsrechtskonformität des NetzDG von maßgeblicher Bedeutung.
Denn auch der deutsche Gesetzgeber ist 2017 davon ausgegangen, dass die in Art. 3 Abs. 4 ECRL geregelte Ausnahmevoraussetzung einer Maßnahme gegen einen „bestimmten Dienst der Informationsgesellschaft“ ebenso bei abstrakt-generellen Regelung gegenüber einer Vielzahl von Diensten gegeben sein kann (vgl. BT-Drs. 18/12356, S. 14). Der ÖVGH scheint einer solchen Auslegung eher skeptisch gegenüber zu stehen (Rn. 35-37) und folgt daher i. Erg. tendenziell der in Deutschland vorherrschenden Literaturmeinung (vgl. Altenhain in: Münchener Kommentar zum StGB, 3. Aufl. 2019, § 3 TMG Rn. 52; Böse in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen, StGB – Kommentar, 5. Aufl. 2017, Vor § 3 ff. StGB Rn. 39; Eifert, in; Eifert/Gostomzyk, Netzwerkrecht, 2018, 9, 24; Feldmann, K&R 2017, 292, 296; Hain/Ferreau/Brings-Wiesen, K&R 2017, 433 f.; Handel, MMR 2017, 227, 230; Heckmann, Internetrecht, 5. Aufl. 2017, Kap. 1 Rn. 207; Hoven/Gersdorf, in: Gersdorf/Paal, BeckOK Informations- und Medienrecht, 27. Edition, Stand: 1.5.2019, § 1 NetzDG Rn. 9; Liesching, MMR 2018, 26, 29 f.; ders. in: Spindler/Schmitz, TMG – Kommentar, 2. Aufl. 2019, § 1 NetzDG Rn. 13 ff.; Marly in: Grabitz/Hilf, Das Recht der Europäischen Union, 20. Aufl. 2009, Art. 3 ECRL Rn. 21 ff.; Müller-Broich, TMG – Kommentar, 2012, § 3 Rn. 21; Naskret, Das Verhältnis zwischen Herkunftslandprinzip und Internationalem Privatrecht in der Richtlinie zum elektronischen Geschäftsverkehr, 2003, S. 40; Nordmeier in: Spindler/Schuster, Recht der elektronischen Medien, 4. Aufl. 2019, Teil 12 § 3 Rn. 27 f.; Ohly, WRP 2006, 1401, 1405; Spindler in: Spindler/Schmitz, TMG – Kommentar, 2. Aufl. 2019, § 3 TMG Rn. 55 ff.; ders., ZUM 2017, 473, 474 ff.; ders., K&R 2017, 533, 535 f.; Weller, in Gersdorf/Paal, BeckOK InfoMedienR, 26. Edition 2019, § 3 TMG Rn. 32; Wimmers/Heymann, AfP 2017, 93, 96 f.). Auch die EU-Kommission hat bislang eher den Einzelfallcharakter der Ausnahme nach Art. 3 Abs. 4 ECRL betont (vgl. KOM(2003) 259 endg. v. 14.5.2003, S. 5).
Ebenso ist die zweite vorgelegte Frage für das deutsche NetzDG von Relevanz, da auch der deutsche Gesetzgeber einen "dringlichen Fall" angenommen hatte. Fraglich ist hier, ob die Bundesrepublik Deutschland gemäß Art. 3 Abs. 5 S. 2 ECRL gegenüber den betroffenen Mitgliedstaaten und der EU-Kommission eine konkrete Mitteilung über die Annahme der Ausnahme vom Herkunftslandprinzip unter Darlegung hinreichender Gründe eines „dringlichen Falls“ vorgenommen hat. Das Bundesjustizministerium hat in einer Auskunft vom 6.2.2020 mitgeteilt, dass über das Notifizierungsverfahren (Nr. 2017/127/D gemäß EU-Richtlinie 2015/1535) hinaus keine eigenständige weitere Mitteilung erfolgt sei, da man offenbar davon ausgegangen ist, dass die dort im Rahmen des Gesetzesentwurfs und der Begründung mitgeteilten Informationen zugleich die Voraussetzungen einer Mitteilung nach Art. 3 Abs. 5 S. 2 ECRL erfüllten.
Das BMJV hat im Wortlaut auf Nachfrage des Verf. am 6.2.2020 ausgeführt: „Die Mitteilung an die EU-Kommission erfolgte am 27. März 2017 im Rahmen des Notifizierungsverfahrens nach der Richtlinie (EU) 2015/1535. Art. 3 Abs. 5 S. 2 der Richtlinie 2000/31/EG sieht für die Mitteilung keine bestimmte Form vor. Sowohl mit der EU-Kommission als auch mit Vertretern der Republik Irland wurden ausführliche Gespräche geführt, die insbesondere die europarechtlichen Aspekte des Gesetzgebungsvorhabens betrafen. Die EU-Kommission hat keine Aufforderung übermittelt, von der Verabschiedung des Gesetzes Abstand zu nehmen“.
Allerdings erscheint schon im Lichte der Rechtsprechung des EuGH (Urt. v. 19.12.2019 – C-390/18, Rn. 88 ff., MMR 2020, 171, 174 f.) fraglich, ob das bloße Notifizierungsverfahren als eine solche hinreichende Mitteilung nach Art. 3 Abs. 5 S. 2 ECRL angesehen werden kann, da die Prüfpflichten bei der Notifizierung anders ausgestaltet sind und gerade – im Gegensatz zu Art. 3 Abs. 6 ECRL – eine Prüfung der Gemeinschaftsrechtskonformität durch die EU-Kommission nicht zwingend „innerhalb kürzestmöglicher Zeit“ voraussetzt. Darüber hinaus ist nicht ersichtlich, ob die EU-Kommission eine Prüfung des NetzDG im Rahmen des Art. 3 Abs. 6 ECRL vorgenommen und von einer Unionsrechtskonformität ausgegangen ist.
Die dem Europäischen Gerichtshof nun im Kontext der österreichischen KoPl-G vorgelegten Fragen werden mittelbar auch für die Unionsrechtskonformität des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes von nicht unerheblicher Bedeutung sein. Im Kielwasser ergeben sich möglicherweise noch weiter reichende Implikationen für die deutsche Mediengesetzgebung, welche etwa im Medienstaatsvertrag, im Jugendschutzgesetz und im Jugendmedienschutz-Staatsvertrag ebenfalls abstrakt-generelle Regelungen mit Geltungsanspruch auf Diensteanbieter in anderen EU-Mitgliedstaaten vorsieht.
Siehe zum Ganzen auch: Liesching: Das Herkunftslandprinzip der E‐Commerce-Richtlinie und seine Auswirkung auf die aktuelle Mediengesetzgebung in Deutschland