Es musste ja kommen - das Landgericht Berlin und der Angriff auf den BGH
Gespeichert von Dr. Michael Selk am
Mit Urteil vom 1.7.2022 (66 S 200/21) (BeckRS 2022, 15450) hält das Landgericht Berlin (jedenfalls die dortige ZK 66) an der Rechtsauffassung fest, dass die Heilungsvorschrift des § 569 III Nr.2 S.1 BGB auch auf die fristgemäße Kündigung gem. § 573 I BGB angewendet werden kann - mit der Folge, dass auch die Wirkung der fristgemäßen, nicht nur der fristlosen Kündigung bei Zahlung binnen zweier Monate nach Rechtshängigkeit der Räumungsklage entfallen würde.
Das Bemerkenswerte an der Entscheidung ist nicht unbedingt der Umstand, dass die Kammer von der dagegenstehenden Linie des VIII. Zivilsenats des BGH (mehrfach entschieden, etwa NZM 2018, 941) abweicht (die Kammer wurde sogar vom BGH früher mit dieser Rechtsauffassung aufgehoben), sondern wie dies geschieht. Das Landgericht wehrt sich vehement gegen den Vorwurf des BGH, man würde mit dieser Auffassung gegen eindeutige gesetzliche Regelungen verstoßen - und startet einen verbalen Gegenangriff auf den Senat in einer bislang jedenfalls im Mietrecht unter Gerichten noch nie da gewesenen Weise. Dem BGH wird vorgeworfen, man verkenne dort die "Wirklichkeitswahrnehmung", die entgegenstehende Argumentation des BGH sei "unverständlich", vieles bliebe "unerklärt", Erwägungen seien "verfehlt" usw usw. Man muss es einfach lesen, um es fassen zu können.
Durchaus süffisant verweist die Kammer eingangs ihrer Begründung auf die Bolzplatzentscheidungen des Senats gerade als Beispiel dafür, was eine angeblich richtige Auslegung leisten könne - denn gerade dort hat der BGH mit dem neu geschaffenen Kriterium der "Ausstrahlungswirkung" in den eindeutigen Wortlaut des § 536 BGB den § 906 BGB "implantiert". "Wie weit ein Gericht dabei in der Auslegung gehen kann..." und wie "überraschend" dies sein könne, formuliert die Kammer (Rn 13) nicht zu Unrecht - und fordert nachvollziehbar in der Folge vom BGH eine Anwendung der juristischen Auslegungsmethoden, die den Regeln der Logik folgt, sich ausführlich mit den Argumenten des BGH auseinandersetzend.
Das Urteil ist die Folge einer jahrelangen, teilweise als "oberlehrerhaft" beschriebenen Diktion des Senats gegenüber zahlreichen Landgerichten, die vom Wohnraummietsenat geradezu "abgestraft" (Börstinghaus, NZM 2019, 226) worden sind. Irgendwann platzt dann auch den Tatgerichten der Kragen. Das ist einerseits verständlich, andererseits für das Ansehen der Justiz alles andere als förderlich.
Die Kammer hat die Revision zugelassen. Es ist davon auszugehen, dass bei eingelegter Revision das Urteil vom BGH wieder aufgehoben und an eine andere Kammer des LG zurückverwiesen wird - wenig überraschend. Interessanter dürfte es sein, sich anzusehen, ob es dem BGH gelingt, mit der noch immer gebotenen Zurückhaltung im Stil auf dieses Urteil zu antworten.
(Mehr dazu vom Verf. in einer Herausgebernotiz in der NZM, vorauss. übernächstes Heft)